"Das lief vom ersten Tag an eigentlich wie geschnitten Brot"

 

Covid-19 attestiert den meisten Fluggesellschaften alles andere als reibungslose Abläufe bei der Abarbeitung von Fluggastforderungen. Jets müssen am Boden bleiben, Flüge sind gestrichen und die Airlines sehen sich einer Flut von Erstattungsansprüchen ausgesetzt. Nach der Ansicht von Ulrich Steppler ist das Anlass für die Flugunternehmen, ihr Beschwerdemanagement zu überdenken und an das digitale Zeitalter anzupassen. Der Flugverkehrsanwalt berät seit 2007 Passage-Airlines bei Arnecke Sibeth Dabelstein. 2017 entwickelte er mit seiner Kollegin Katja Brecke in einer Nebentätigkeit die Lösung justclaims.eu. Mit der Software automatisieren Airlines die Abwicklung von Fluggast-Claims. Dafür hat Ulrich Steppler mit seinem Team die Tatbestandsvoraussetzungen der europäischen Fluggastrechtsverordnungen und die Rechtsprechung des EuGH in Algorithmen übersetzt. Airlines und ihren Service-Agenten bietet er ein Tool, mit dem der Prüfprozess eingehender Forderungen skalierbar und kundenfreundlicher wird. Im Interview gibt er einen Einblick in den Gründungsprozess aus einer Wirtschaftskanzlei heraus und die Chancen einer automatisierten Claims-Bearbeitung für Airlines und ihre Digital Customer Journey.  - Philipp Kürth


Muster+Linkedin-4.jpg

Ulrich Steppler ist im Frankfurter Büro der Sozietät Arnecke Sibeth Dabelstein als Partner im Bereich Transportation, Aviation & Logistics tätig. Dort vertritt er Fluggesellschaften und Unternehmungen der Luftverkehrs- und Reiseindustrie. 2017 gründete er die CHS Claims Handling Solutions GmbH, welche die Plattform justclaims.eu betreibt. Das Unternehmen bietet Fluggesellschaften eine automatisierte Lösung für das Management von Fluggastansprüchen an. Das Startup ging 2019 mit TUI fly live. Seitdem ist Ulrich Steppler neben seiner Arbeit als Kanzleipartner Geschäftsführer von CHS.


Sie haben vor Ihrem Jurastudium eine Lehre als Bankkaufmann gemacht. Denken Sie, dass Ihnen dieser interdisziplinäre Hintergrund geholfen hat, um als Jurist unternehmerisch tätig zu werden?

Ich glaube, das hat den Einstieg ein bisschen erleichtert. Vor allem im Studium, als ich begonnen habe, für Kanzleien zu arbeiten und Praktika absolviert habe. Ich habe u.a. in Marburg studiert, und da gab es lokal kleine Kanzleien, bei denen ich gejobbt habe. Es war dann auch schnell klar, dass ich Anwalt werden möchte. Ich glaube, die Banklehre war hilfreich, um einen kaufmännischen Blick auf viele Sachverhalte zu bekommen.

Aber auch im Berufseinstieg war es sicherlich nicht hinderlich. Gerade bei allem, was Bank- und Zahlungsthemen anbelangt, hatte ich einen kleinen Vorteil.


Mit der CHS Claims Handlings Solutions bieten Sie Airlines an, Fluggast-Forderungen automatisiert zu bearbeiten. Was war der Auslöser beziehungsweise die Idee für die Gründung? Auf welches Bedürfnis der Fluggesellschaften gehen Sie damit ein?

Wir haben eine solide Luftverkehrsrechtspraxis  an unserem Standort in Frankfurt. Wir beraten etwa 50 Fluggesellschaften, viele Passage-Airlines, aber auch Cargo-Airlines. Im täglichen Umgang mit unseren Passage-Mandanten haben wir allerdings gesehen, dass viele Fluggesellschaften bei der Bearbeitung von Claims noch nicht den Schritt in die Digitalisierung gewagt haben. Dabei drängt es sich eigentlich auf, diese immer wiederkehrenden Konstellationen zu automatisieren, weil da ein hoher repetitiver Anteil dabei ist. Airlines haben, was die IT-Landschaft betrifft, die letzten Jahre viel in andere Dinge investiert. Das betrifft vorrangig Umbuchungen. Auch bei der automatisierten Erstattung, die jetzt in der Covid-19-Krise wieder Thema ist, hat sich etwas getan. Man kann vieles in der App lösen: umbuchen, Erstattung beantragen, seine Meilen umwandeln. Aber bei vielen Airlines endet die Digital Customer Journey immer noch, wenn irgendeine Verspätung, Flugstreichung, Überbuchung, also irgendeine Flugunregelmmäßigkeit eintritt. Wenn man sagt „Jetzt will ich meine Entschädigungsansprüche geltend machen“, muss man eine E-Mail schreiben, zum Hörer greifen, zum Anwalt gehen oder sich an Flightright oder andere Claim-Agenturen wenden. Das entspricht nicht mehr der Verbrauchererwartung. Und da haben wir uns gedacht, das ist doch eigentlich etwas, was Airlines intern abbilden sollten. Und so kamen wir auf die Idee, selber die Lösung bauen zu lassen. 


logo-claims-handling-3.png

CHS ist eine Gesellschaft mit Sitz in Frankfurt am Main, Deutschland. CHS betreibt die Plattform justclaims.eu, die Fluggesellschaften bei der digitalen Schadensbearbeitung unterstützt - von der Eingabe der Schadensinformationen über die Kommunikation mit dem Passagier bis hin zur Abwicklung der Zahlungen.


Und welchen Vorteil haben die Airlines dadurch? Was ist das Ziel der Fluggesellschaften, wenn Sie den Entscheidungsprozess vereinfachen oder automatisieren wollen?

Man differenziert darüber natürlich auch das eigene Produkt. Diese Vogel-Strauß-Taktik, die vor zehn Jahren vielleicht noch funktioniert hat, mit der Fluggesellschaften versucht haben, Claims auszusitzen, das funktioniert heute nicht mehr. Das heißt, man muss eigentlich – wenn nicht proaktiv, dann doch zumindest zeitnah – auf Fluggäste zugehen, die Claims anmelden. Und damit einfach zeigen, dass man eine Fehlerkultur hat, die dahin geht, dass berechtigte Claims auch zügig bearbeitet werden und unberechtigte Forderungen abgelehnt werden. Der Vorteil der Airline ist, dass man darüber auch eine Kundenloyalität erzeugen kann. Und sie treibt die Passagiere natürlich nicht den Claim-Agenturen in die Arme, sondern kann das Geld im eigenen Ökosystem behalten. Im Moment ist es ja so, dass die Luftverkehrsindustrie die Claims-Industrie finanziert und ein Drittel, manchmal bis zu einer Hälfte des Anspruchs des Fluggastes als Provision bei den Agenturen landet. Das muss ja nicht sein, sondern man könnte das Geld auch verwenden, um zu versuchen, wieder neue Tickets zu verkaufen. Das ist eigentlich unser Ansatz. Deswegen ist das natürlich für die Airlines viel attraktiver, als die Fluggäste das zweite Mal zu frustrieren: Einmal durch die Verspätungund dann auch noch durch einen langwierigen Beschwerdeprozess.


Erfolgsfinanzierter Rechtsschutz

Bei erfolgsfinanziertem Rechtsschutz verfolgen entsprechende Anbieter die Begehren der Kläger ohne finanzielle Gegenleistung. Im Erfolgsfall des gerichtlichen Verfahrens verdient der Anbieter an einer Provision des erklagten Betrags. Verbraucher können ohne finanzielle Belastung und Prozessrisiko ihre rechtlichen Interessen durchsetzen, während Anbieter durch Online-Plattformen und technische Optimierung effektiv bei der Vorauswahl filtern und eine hohe Erfolgsquote im Verfahren erreichen. Große praktische Bedeutung haben Anbieter, die Diesel-Geschädigte und von Flugverspätungen Betroffene vertreten.


Es profitiert also auch der Kunde, wenn die Airlines die Forderungen selbstorganisiert bearbeiten, weil die Provision entfällt, die bei anderen Fluggast-Portalen im Erfolgsfall zu zahlen wäre. Gibt es darüber hinaus noch einen weiteren Mehrwert, der dem Kunden zu Gute kommt?

Eine Überlegung ist, dass man  zusätzlich höherwertige Gutscheinansprüche anbietet, also eine Umwandlung vornimmt. Angenommen ein Fluggast hat einen 600 Euro-Anspruch auf eine Entschädigung. Fragt man dann am Ende des Prozesses vor der Auszahlung: „Lieber Fluggast, hast du Lust, daraus 700 Euro zu machen?“ Die meisten Passagiere werden sagen, „Okay, wo muss ich das Häkchen setzen?“ Das kann man erreichen, indem man die Zahlungen mit Gutscheinen von Drittanbietern kombiniert und natürlich versucht, den Fluggast zu allererst wieder auf die Homepage der eigenen Airline zu steuern und da ein neues Ticket zu verkaufen. Oder dann vielleicht einen Gutschein hinzufügt oder die Zahlungen sogar aufbricht, also tatsächlich noch ein Verkaufserlebnis schafft. Indem man sagt: Volles Wallet, leerer Einkaufskorb – man kauft ein Ticket, man geht zu Zalando und hat dann vielleicht noch Geld übrig und kriegt noch eine Cash-Auszahlung. Bricht man die Zahlung so auf, müsste das deutlich attraktiver sein als die Lösung eines Fluggast-Portals, wo man eben nicht 700 Euro bekommt, sondern nur 300 Euro. Und dieses Delta müsste man gegenüber den Passagieren eben auch promoten. Es lohnt einfach nicht, auf so viel Anspruch zu verzichten.


Das heißt im Erfolgsfall ist das, was der Passagier zurückerstattet bekommt, auf jeden Fall attraktiver oder schlichtweg mehr als bei einem Fluggast-Portal, bei dem die Provision anfällt. Aber ist denn die Rechtsdurchsetzung genauso effektiv? Oder besteht da nicht auch ein Interesse der Airlines, eventuell streitige Fälle eher zu ihren Gunsten nicht zu entschädigen und sich schneller auf außergewöhnliche Umstände zu berufen, die einen Anspruch auf Entschädigung entfallen lassen?

Erst einmal: Wir verstehen uns nicht als Fluggast-Portal. Wir sind eine Software, die nur im Hintergrund auftritt. Wir sind eine Whitelabel-Lösung, die für Fluggäste ja nicht offen ist. Das ist nicht wie Flightright.com, wo Sie einfach Ihren Claim anmelden können. Zu den streitigen Fällen: Klar, wenn kein Anspruch besteht, wird abgelehnt. Sehenden Auges, dass wahrscheinlich ein großer Teil davon das zweite Mal über eine Agentur angemeldet wird oder über einen Anwalt streitig ausgefochten wird. Diese Fälle werden nach meiner Ansicht auch nie verschwinden. Unsere Lösung erleichtert die Prüfung und die Einschätzung für die Airlines, ob der Anspruch gegeben ist oder nicht.

Und man kann sich auch darüber hinwegsetzen; selbst Ansprüche, die nach der Prüfung durch unsere Lösung als nicht gegeben gekennzeichnet sind, könnten natürlich reguliert und bezahlt werden. Zum Beispiel aus Kulanz oder bei einer großen Verspätung, auch wenn sie nicht unter der Kontrolle der Airline steht. Aber wenn sie sehen, was die Verspätung für die Fluggäste an Nachteilen mit sich gebracht hat, mag es Airlines geben, die das dann auch kompensieren wollen.


Können Sie einen Einblick geben, wie sich die Prüfprozesse bei Fluggesellschaften hinsichtlich der Forderungen bisher gestaltet haben? Und wie die Automatisierung technisch abläuft? Wo setzt die Software an, um die Bearbeitung von Prozessen effizienter zu machen?

Viele Fluggesellschaften prüfen jeden Fall einzeln, was sehr zeitintensiv und aufwendig und auch fehlerbehaftet ist. Dann kann man vielleicht auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, je nachdem, von wem der Claim bearbeitet wird. Der Legal Input von uns Juristen bei justclaims.eu bestand darin, dass wir die Tatbestandsvoraussetzungen der Fluggastrechtsverordnungen und die Rechtsprechung vor allem des Gerichtshofs der Europäischen Union in Algorithmen haben übersetzen lassen. Hierdurch laufen eine Vielzahl an Prüfungen im Hintergrund, wenn ein Claim in der Plattform erfasst wird. Und diese Prüfungen helfen dem Service-Agenten einer Fluggesellschaft, die Einschätzung vorzunehmen, ob der Claim bezahlt werden soll, abgelehnt werden soll oder ob man sich in einer Grauzone bewegt, sodass vielleicht ein Vergleich indiziert ist. Viel mehr Möglichkeiten gibt es ja nicht. Entweder wir hatten einen technischen Defekt – dann müssen wir wohl zahlen – oder es war schlechtes Wetter, oder es gab von der Flugsicherung Vorgaben, dass wir nicht starten durften – dann besteht kein Anspruch auf Entschädigungsleistungen. Oder wir sind uns nicht ganz sicher – dann bietet man vielleicht, um die Sache gütlich zu beenden, einen Vergleich an.


CHS ist ja eine Ausgründung aus der Kanzlei Arnecke Sibeth Dabelstein, bei der Sie Partner sind. Wie kam die Lösung, die Software von CHS, seit dem Launch am Markt an?

Sehr gut, das Interesse ist da. Viele Fluggesellschaften sehen die Notwendigkeit, da was zu machen. Jetzt hat uns Covid-19 natürlich ein bisschen den Stecker gezogen. Wir waren mit vielen Fluggesellschaften im Gespräch, um da gemeinsam eine Lösung voranzutreiben. Aktuell haben die Fluggesellschaften ganz andere Sorgen, als eine Software zu kaufen. Aber für viele Fluggesellschaften ist das eigentlich ein No-Brainer. Natürlich geht die Entwicklung hin zur Digitalisierung und Automatisierung, auch bei der ganzen Claims-Bearbeitung und dem Beschwerdemanagement. Die grundsätzliche Frage ist, ob Fluggesellschaften das selber entwickeln, oder ob sie die Lösung eines Drittanbieters einkaufen wollen.

Viele Fluggesellschaften haben in anderen Bereichen ihrer IT-Infrastruktur investiert. Gerade, was die sogenannte Ticket-Straße angelangt. Und ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Beschwerdemanagement-Lösungen dort integriert werden. Und dann eben auch in der App ein Claim angemeldet werden kann. Im Moment verstecken es viele noch, manche sind da, was die Anmeldungen von Claims anbelangt, etwas offenherziger geworden über die letzten Jahre. Sodass es Web-Formulare gibt, wo man sich durchklicken kann. Manche sind sehr gelungen, manche noch ein bisschen sperrig für die Verbraucher. Aber da ist viel im Fluss und die Industrie insgesamt auf einem guten Weg.


logo-2.png

Die Wirtschaftskanzlei Arnecke Sibeth Dabelstein hat ihre Kernkompetenzen im Bereich des Immobilienrechts, der maritimen Wirtschaft sowie im Rechtsbereich Transportation/Aviation/Logistik und ist hierbei marktführend und international bekannt.


Gibt es denn eine Verbindung zwischen den Mandaten, die Sie in der Kanzlei bearbeiten, und den Aufträgen bei CHS? Hat sich zum Beispiel einerseits die Möglichkeit der Software positiv auf die Akquise der Mandate bei der Kanzlei ausgewirkt? Oder haben Sie vielleicht primär die Mandanten der Kanzlei mit der Lösung angesprochen?

Es wird erst mal so wahrgenommen, dass es etwas Ungewöhnliches ist. Weil Anwälte ja oft als Teil des Problems und nicht der Lösung betrachtet werden – weil wir oft dafür bezahlt werden, Dinge auszusprechen, die keiner hören will. Dass wir mit einer Lösung und dann auch noch mit einer digitalen Lösung im Legal Tech-Bereich ein Angebot formulieren: Da sind erst einmal viele Mandanten oder auch die Airlines insgesamt überrascht, weil sie das von einer Kanzlei – glaube ich – erst mal nicht erwarten. 2017 haben wir uns gegründet. Mittlerweile gibt es natürlich viele Kanzleien, die in diese Richtung denken und Angebote formulieren. Vor drei Jahren war es noch ungewöhnlicher, als es heute ist. Es wird positiv aufgenommen. Aber man kann sich natürlich nicht so richtig teilen, man hat da gleich zwei verschiedene Hüte auf. Einmal als Sozius der Partnerschaft und dann als Gründer, CEO und Gesellschafter eines Startups. Beides vermischt sich so leicht. Das eine befruchtet das andere. Natürlich sprechen wir in erster Linie Mandanten mit unserer Lösung an. Aber wir können auch Mandate für die Kanzlei über das Startup akquirieren. Das bedingt sich gegenseitig.


In dem Falle ist Legal Tech also nicht die Disruption, sondern befördert das Geschäft des Anwalts. Sie haben eben schon den Punkt angeschnitten, dass Anwälte eigentlich nicht als Haupttriebkraft der Technologisierung in der Branche gesehen werden. Wie sehr haben Sie die technischen Voraussetzungen an die Entwicklung der Plattform als Herausforderung wahrgenommen?

Wir hatten einen Glücksgriff bei den Entwicklern und bei den Agenturen, mit denen wir gearbeitet haben. Wir mussten eigentlich nur unsere Erwartungen an die Lösung formulieren und das wurde dann in Hardcodes umgewandelt. Ich habe das schlussendlich nicht so als Herausforderung oder Schwierigkeit wahrgenommen. Das lief vom ersten Tag an eigentlich wie geschnitten Brot, wir hatten kaum Bugs. Genauso beim Live-Gang – wir sind mit der TUI letztes Jahr live gegangen – lief es hervorragend. Und es ist erstaunlich, was alles geht. Vor drei Jahren dachte ich, wenn ich den Begriff „Prozess“ gehört habe, natürlich an ein Gerichtsverfahren und nicht an irgendwelche technischen Abläufe. Aber über die Jahre hat man sich ein gewisses Know-how aufgebaut, was die technologische Seite anbelangt. Eine wirkliche Herausforderung war damit gar nicht verbunden.


Und diesen Prozess – auch die technische Entwicklung, die Sie jetzt durch entsprechende Dienstleister haben vornehmen lassen – hat das die Kanzlei finanziert? Oder war auch das Ihre Eigeninitiative?

Gesellschafter des Startups sind Partner der Kanzlei – wir sind durchfinanziert.


Gab es bei Arnecke Sibeth Dabelstein schon vor Ihrer Idee Fälle einer Startup-Gründung, die als Beispiel dienen konnten? Oder waren Sie Vorreiter in der Kanzlei?

Wir haben noch andere Gesellschaften in Kanzleinähe, also Beratungsunternehmen. Aber jetzt nichts, was so einen Startup-Charakter hat wie die CHS. Das ist auch die erste Legal Tech-Lösung, die wir anbieten. Insofern war das schon ein bisschen eine Pionier-Tätigkeit. Das neben der anwaltlichen Arbeit als Nebentätigkeit zu machen, war natürlich eine Herausforderung.


Haben sich jetzt im Nachhinein, wo sich der Erfolg Ihres Impulses zeigt, andere Partner oder Anwälte bei ASD ein Beispiel an Ihrer unternehmerischen Initiative genommen und verfolgen jetzt ähnliche Projekte?

Wir sprechen darüber, was man noch machen könnte – eine konkrete zweite Gründung gibt es noch nicht. Aber wir spielen mit einigen Ideen. Wir überlegen, was vielleicht an weiteren Lösungen nachgefragt werden könnte, aber das ist noch nicht wirklich spruchreif.


Können Sie schon sagen, welche Tätigkeitsfelder der Kanzlei das eventuell betrifft? Wird es dabei weiter um Flugangelegenheiten gehen, oder kommen auch andere Bereiche in Betracht – wie die maritime Wirtschaft oder Immobilien – in denen ASD tätig ist?

Es könnte im Claims-Bereich bleiben, aber die Industrie wechseln. Arbeitsrecht ist vielleicht auch ein Thema. Wir sehen, was Chevalier auf Arbeitnehmerseite macht – das könnte man theoretisch auch auf der Arbeitgeberseite spiegeln. Weil wir als Wirtschaftsanwälte ja keine Verbraucher, keine Einzelpersonen vertreten – oder wenn, dann nur ausnahmsweise – sondern nur auf Unternehmensseite tätig sind. So wie wir ja auch nur auf Seiten der Fluggesellschaften auftreten und niemals Fluggäste vertreten.


Wie zeit- und arbeitsintensiv war der Gründungsprozess als Nebentätigkeit denn konkret und wie haben Sie das neben dem alltäglichen Kanzleigeschäft als Partner bewerkstelligen können?

Die zeitliche Inanspruchnahme war natürlich enorm. Besonders in den Hochphasen – auch gerade um den Live-Gang herum. Da muss man ein bisschen früher aufstehen und geht ein bisschen später ins Bett. Der Tag hat halt nur 24 Stunden, aber ich war ja nicht allein oder bin nicht allein, sondern habe eine Mitgründerin und Geschäftsführerkollegin, Katja Brecke, die auch initiativ ist und sich engagiert einbringt. Deswegen war das schlussendlich alles machbar. Teilweise war es vielleicht auch an der Grenze dessen, was man sich selber oder seiner Familie zumuten sollte. Aber es hat mich ja niemand gezwungen, deswegen beklage ich mich auch nicht. Macht ja auch großen Spaß, etwas aufzubauen und zu entwickeln. Vor allem, wenn man sieht, dass es nach so kurzer Zeit zum Erfolg geführt hat. 90 Prozent aller Startups verschwinden wieder in der Versenkung. Dass wir unser Konzept sehr kurze Zeit nach dem MVP schon über einen Live-Gang nachweisen können, ist natürlich schön. Und zu sehen, dass es Interesse im Markt gibt für die Lösung. Wenn wir die Corona-Krise nicht hätten, dann gäbe es wahrscheinlich schon neue Schlagzeilen mit neuen Fluggesellschaften, die unsere Plattform nutzen würden. Aber jetzt muss die Airline-Industrie erst mal durch die Krise kommen, und wir damit auch. Aber dann geht es in großen Schritten weiter, da bin ich sehr zuversichtlich.


Sie sind weiterhin Partner bei der Kanzlei und gleichzeitig auch Geschäftsführer der CHS Claims Handling Solutions. Auf welcher Tätigkeit liegt denn Ihr Fokus?

Schon auf der anwaltlichen Tätigkeit. Die CHS bleibt die Nebentätigkeit, da sind die Rollen nach wie vor klar verteilt. Es bleibt ein Seitenprojekt, obwohl wir das mit viel Herzblut betreiben und vertreiben. Wir haben ein Team von Entwicklern, die uns zuarbeiten und Mitarbeiter, die das konzeptionell begleiten. Von daher bleibt die anwaltliche Tätigkeit natürlich meine Haupttätigkeit.


Und wie arbeitsintensiv ist das ungefähr, als Nebentätigkeit Geschäftsführer einer GmbH zu sein?

Das schwankt. Da gibt es Phasen, die sind sehr zeitintensiv und dann gibt es wieder Phasen, da haben die Entwickler den Hut auf und müssen die Plattform voranbringen – dann beschränkt es sich auf ein, zwei wöchentliche Videokonferenzen. Aber weil man das auch manchmal nicht so ganz klar und scharf trennen kann, vermischt sich das auch ein bisschen. Wenn man etwa versucht, Mandanten für die Kanzlei zu akquirieren, spricht man vielleicht auch über die digitale Lösung.


Was würden Sie sagen war der entscheidende Erfolgsfaktor dafür, dass sich justclaims.eu als so erfolgreich entpuppt hat?

Wenn ich es an einem Punkt festmachen sollte: Ich glaube, dass die Funktionalität der Lösung  unseren Launching-Partner TUI fly überzeugt hat. Außerdem kann man sehen, wie viel Zeit- und damit Kostenersparnis mit einer automatisierten Bearbeitung von Fluggast-Beschwerden verbunden ist. Wir sind mit einer halbautomatisierten Lösung gestartet; mittlerweile haben wir eine vollautomatisierte Lösung. Und die bietet noch einmal ein Vielfaches von dem Einsparpotential der halbautomatisierten Plattform.

Man kann immer noch an Stellschrauben drehen, um Zeit und Geld zu sparen. Und da entwickeln wir auch laufend weiter. Aber ich glaube, der entscheidende Punkt ist dann doch: Zeit ist Geld. Und wenn man schnell die Beschwerden bearbeiten kann und nicht eine Armee von internen Claims-Händlern oder externen Callcenter-Mitarbeitern beschäftigen muss, ist in einer margenschwachen Verkehrsindustrie eine Softwarelösung doch sehr attraktiv.


Wir haben schon festgestellt, dass die Covid-19-Pandemie und die aktuelle Krise den Fluggesellschaften zu schaffen macht. Wie steht es denn angesichts dieser Einschränkungen um die Auftragslage bei der CHS Claims Handling Solutions und hat das Auswirkungen auf Ihre Zukunftsaussichten für das Unternehmen?

Aktuell haben die Fluggesellschaften natürlich andere Sorgen, als eine Software zu kaufen. Wobei wir auch mit manchen Fluggesellschaften sprechen, die jetzt gerade in der Krise sehen, dass es eigentlich Zeit wäre, die Digitalisierung voranzutreiben. Viele rufen auch das Jahr der Digitalisierung aus – manche auch schon das zweite oder dritte Jahr in Folge. Es ist wichtig, die Krise zu nutzen – weil nach der Krise vor der nächsten Krise ist. Das nächste Mal, wenn ein hohes Volumen an Erstattungsansprüchen eingeht, baut man so nicht wieder einen riesigen Backlog auf, sondern arbeitet die Claims einfach mit einer automatisierten Lösung ab. Auf der anderen Seite – klar, wenn nicht geflogen wird, dann gibt’s auch keine Beschwerden. Und bei einem niedrigen Volumen an Claims sehen manche Fluggesellschaften derzeit nicht die Notwendigkeit, da zu investieren. Was vielleicht kurzsichtig ist, weil ja irgendwann wieder geflogen wird.

Natürlich ist es eine Herausforderung, wenn die gesamte Branche in einer epochalen Krise steckt. Aber deswegen reißen unsere Gespräche mit Airlines eigentlich nicht ab. Viele sehen nach wie vor die Notwendigkeit der Digitalisierung und Automatisierung. Es würde mich sehr wundern, wenn jetzt jemand wieder auf alte CRM-Systeme oder Excel-Sheets zurückgreifen möchte. Ich glaube, die Covid-19-Krise befördert die Digitalisierung in vielen Lebensbereichen. Meine Tochter sitzt ein Zimmer weiter und macht gerade mit ihrer Schulklasse eine Zoom-Konferenz. Der Trend zur Digitalisierung wird auch die Bereiche der automatisierten Beschwerdebearbeitung ergreifen.


Sehr spannend zu sehen, dass aus einer Kanzlei heraus die Innovation vorangetrieben wird!

Wir waren mutig: Da saßen wir, haben die Köpfe zusammengesteckt und irgendwann haben wir uns gesagt, "Okay, wenn wir nicht gründen, dann bleibt es halt eine schöne Idee. Und ob es Erfolg am Markt hat, werden wir dann nie sehen." Dann waren wir doch zu neugierig und auch von der Machbarkeit überzeugt. 

Es ist sicherlich ein Vorteil, dass wir nicht Mitte 20 sind. Man ist über die Jahre der Anwaltstätigkeit ganz gut vernetzt in der Branche, sodass einem auch zugehört wird. Es ist in der Tat eine Herausforderung, dass die Verkaufszyklen der Airlines sehr langwierig sind. Und bis man mal beim Einkauf landet, das kann schon dauern. Da dreht man einige Runden mit der Präsentation. Aber Begeisterung kann man schnell bei den Service-Agenten der Fluggesellschaften erreichen. Die begreifen sofort, was das für ihre tägliche Arbeit bedeutet, wenn man mit einer automatisierten Lösung arbeitet und nicht mit Strichlisten irgendwelche Statistiken anfertigen muss.

Wir haben viele tausend Gerichtsverfahren im Claims-Bereich geführt. Damit haben wir einen geschärften Blick auf die internen Abläufe der Airlines, wissen, wie die Gerichte und auch die Claim-Agenturen ticken. Das gibt uns einen 360-Grad-Blick auf die Thematik der Claims-Bearbeitung. Und das kam uns bei der konzeptionellen Arbeit und der Programmierung der Plattform zu Gute. Schlussendlich ist es ja eine Entscheidungs-Engine, die wir gebaut haben und ein Tool, das die Entscheidung deutlich verschlankt und erleichtert. Und ja – da schaden ein paar Jahre Berufserfahrung nicht. 


Ich bedanke mich bei Ihnen für die Einblicke, Herr Steppler!


Interviewer

Philipp studiert im sechsten Semester Jura an der Humboldt Universität in Berlin. Nebenbei arbeitet er bei LAWLIFT und schreibt für Magazine und Blogs über Legal Tech.