“Legal Tech muss Anwaltssache sein“

 
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Prof. Dr. Martin Henssler ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln. Im Rahmen eines Gutachtens, in Auftrag gegeben von der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, befasste er sich mit der Zulässigkeit von bestimmten Legal Tech Geschäftsmodellen und lehnte die Rechtmäßigkeit dieser ab. 

Einleitung
Herr Prof. Dr. Henssler, wir freuen uns, dass wir Sie für unsere Interviewreihe gewinnen konnten.
Bisher haben wir in unseren Interviews stets die positive Seite der Legal Tech-Entwicklung beleuchtet. Neuerungen können jedoch auch negative Seiten aufweisen und werden teilweise kontrovers diskutiert. Insbesondere die Entscheidung des BGH Ende letzten Jahres zu wenigermiete.de (Urt. v. 27.11., Az. VIII ZR 285/18) wurde von allen Beteiligten mit Spannung verfolgt.
Fassen wir mal den Sachverhalt des Urteils grob zusammen:
Ein Legal Tech-Dienstleister möchte sich darauf spezialisieren, gleichartige Schadensersatzforderungen gegen verschiedene Unternehmen, Vermieter oder Sonstige durchzusetzen. Logischerweise geht das nur, wenn sie Inhaber der Forderung sind. Dies wiederum setzt voraus, dass die Forderung vorab wirksam an sie abgetreten wurde, z.B. von einem Autokäufer oder Mieter. Dabei stellt sich die Frage, ob der Abtretungsvertrag nichtig sein könnte, weil er gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Ein solches Verbot könnte sich konkret aus den §§ 3, 4 und 12 RDG ergeben. Sollte die Abtretung unwirksam sein, ist der Legal Tech-Dienstleister nicht befugt, die Forderung durchzusetzen, gerichtlich wie außergerichtlich. Das gerade aufgezeigte Geschäftsmodell würde damit in sich zusammenfallen. Eine Vielzahl an Kunden könnten sogar Schadensersatzansprüche gegen solche Dienstleister erheben.
Entscheidend ist also die Auslegung des anwaltlichen Berufsrechts, da kommen Sie ins Spiel. In Ihrem Gutachten zu den prozessfinanzierenden Inkassodienstleistern kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Abtretung der Forderung an einen Legal Tech-Dienstleister unwirksam ist.
Sie bemängeln vor allem, dass es sich bei den "neuen Geschäftsmodellen" nicht um ein typisches Inkassogeschäft handele. Dies resultiere daraus, dass nicht nur der Einzug einer Forderung vorliegt, sondern auch eine Prozessfinanzierung gegen Erfolgsbeteiligung. Weiterhin sehen Sie eine Gefahr für das Anwaltsmonopol, da diese neuen Geschäftsmodelle Dienstleistungen erlauben, die dem Rechtsanwalt gerade nicht erlaubt sind. Sehr beschäftigt hat mich Ihr Argument des Vorliegens eines Interessenskonflikts, welcher sich aus § 4 RDG ergeben könnte.

Und da habe ich auch schon die erste Frage: Worin genau besteht dieser Interessenkonflikt und wieso existiert dieser bei einem Anwalt oder einer Anwältin gerade nicht?

Der Interessenkonflikt lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Nehmen Sie die aktuellen Klagen in den sog. Dieselfällen, die gerade von dem Inkassounternehmen Financialright unter der Marke Myright geführt werden: Auf der einen Seite stehen die Interessen von Myright mit ihren 45.000 Klagen mit einem von mir hier schlicht unterstellten, fiktiven Gegenstandswert von durchschnittlich 6.000 Euro – so hoch sollen also im Durchschnitt die eingeklagten Ansprüche der Dieselkäufer sein. Auf der anderen Seite haben wir die Interessen eines konkreten einzelnen Käufers, der eine Schadensersatzforderung von – wiederum unterstellten – 6.000 Euro an Myright zum Einzug abgetreten hat. Stellen Sie sich jetzt die Vergleichsverhandlung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht vor: Das Inkassounternehmen hat bislang Kosten aufgewendet in Höhe von – sagen wir mal – 5 Mio. Euro. Im Rahmen der Vergleichsverhandlungen weist das Gericht darauf hin, dass für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen noch eine oder mehrere Beweisaufnahmen durchgeführt werden müssen, es müssen teure Sachverständigengutachten eingeholt werden, um zu klären, wie es tatsächlich mit den Abschalteinrichtungen etc. aussieht und dazu müsste ein Kostenvorschuss von fiktiv fünf weiteren Millionen Euro eingeholt werden.

Als Alternative schlägt das Gericht einen Vergleich vor. Es unterstellt einen durchschnittlichen Schaden von 3.000 Euro, also die Hälfte der eingeklagten Schadensersatzbeträge von durchschnittlich 6.000 Euro, und dessen Begleichung durch das beklagte Unternehmen vor. Für unser Inkassounternehmen bedeutet das: 45.000 Klagen mal 3.000 Euro, also, wenn ich richtig rechne, 135 Mio. Euro, die Beteiligungsquote des Inkassounternehmens wäre nach dem abgesprochenen Erfolgshonorar ein Drittel davon, also erhält das Inkassounternehmen 45 Millionen Euro. Ein enormer sicherer Gewinn für das Inkassounternehmen, der zugleich sicher alle Kosten abdeckt, sodass ein Gewinn von 40 Mio. Euro bleibt. Lehnt das Inkassounternehmen dagegen den Vergleich ab, muss eine Beweisaufnahme durchgeführt werden, in die es weitere fünf Millionen Euro investieren muss, mit dem Effekt, dass es bei einem ungünstigen Ausgang der Beweisaufnahme auf insgesamt zehn Millionen Euro Kosten sitzen bleibt.

Was meinen Sie, wie sich die Entscheidungsfindung für unser Inkassounternehmen darstellen wird? Ein sicherer 40 Mio. Euro-Gewinn auf der einen Seite und ein drohender 10 Mio. Euro-Verlust auf der anderen Seite bei unklaren zusätzlichen Gewinnchancen? Es ist doch klar, dass sich für das Unternehmen die Annahme dieses Vergleichs aufdrängt, wobei natürlich im konkreten Fall viele weitere Unwägbarkeiten zu berücksichtigen sind.

Wenn Sie sich dagegen in die Position des einzelnen durchschnittlichen geschädigten Dieselkäufers versetzen, sieht dessen Interessenlage ganz anders aus. Er wird sagen: Ich habe einen definitiven Schaden von 6.000 Euro erlitten und ich meine, dass ich diesen auch ersetzt bekommen sollte. Wird dieser Vergleich abgeschlossen, bekomme ich nach Abzug des Erfolgshonorars des Inkassounternehmens lediglich zweitausend Euro ersetzt, also nur einen kleinen Teil meines Schadens. Ich plädiere für die Durchsetzung der (mich nichts kostenden) Beweisaufnahme. Die Interessenlage des Mandanten kann ersichtlich eine völlig andere sein! Die eine Seite macht einen sicheren Gewinn in Höhe von 40 Mio. Euro. Die andere Seite bekommt von einem tatsächlich entstandenen Schaden effektiv nur ein Drittel ersetzt. Aus meiner Sicht ist der Interessenkonflikt evident, zumal die Interessen jedes einzelnen der 45.000 Käufer wiederum ganz unterschiedlich sein können, je nachdem, wie sehr der jeweilige Käufer nach seiner wirtschaftlichen Situation auf den Schadensersatz angewiesen und wie seine Beweislage hinsichtlich des konkreten Schadens ist. Die wirtschaftliche Kalkulation wird für beide Seiten ganz unterschiedlich ausfallen, schon deshalb, weil nur beim Inkassounternehmen der besondere Hebeleffekt (Leverage) aufgrund der 45.000 Klagen entsteht, der die hohen Gewinne erlaubt. Nun gleichwohl einfach von einer fiktiven Interessenidentität auszugehen nach dem Motto, „Alle wollen doch so viel wie möglich erreichen“, ist schlicht naiv. Das ist übrigens weltweit auch völlig anerkannt. Entscheidungen unter Ungewissheit sind ein breites Forschungsfeld der Betriebswirtschaftslehre. Genau die gleichen Probleme stellen sich in den USA – etwa bei Vergleichen in Class-Actions – , bei denen die Interessen der auf Erfolgshonorarbasis arbeitenden Anwaltskanzlei und die des einzelnen Geschädigten anerkanntermaßen ebenfalls nicht identisch sind. Tendenziell gilt: Für das Inkasso-Unternehmen kann es viel früher schon sehr attraktiv sein, mit einem hohen Gewinn aus dem Verfahren auszusteigen, ohne letztlich alle Chancen ausgereizt zu haben. Insofern ist aus meiner Sicht der Interessenkonflikt evident und das sehen auch nicht nur ich, sondern viele andere genauso.


Könnte man also kurz zusammengefasst Folgendes sagen: Es besteht bei dem Inkasso-Unternehmen immer die Gefahr, dass durch diesen Vergleich eine viel kleinere Summen abgeschlossen wird und diese Summe dann natürlich nicht den vollen Schadensersatzanspruch des Geschädigten widerspiegelt?

Das ist nicht ganz richtig zusammengefasst, es geht um die unterschiedliche wirtschaftliche Ausgangslage, in der die Entscheidung unter Ungewissheit jeweils gefällt wird, die wirtschaftliche Kalkulationslage ist jeweils eine ganz andere und sie unterscheidet sich auch zwischen den (angeblich) Geschädigten. Bei Inkassounternehmen geht es darum, einen überproportional hohen Gewinn über einen Leverage-Effekt zu erzielen. Bei dem einzelnen Geschädigten geht es darum, einen eingetretenen Schaden ersetzt zu bekommen, wobei die Kosten-Nutzen-Relation von der eigenen Vermögenssituation abhängt. Ab welchem Betrag es für das Inkassounternehmen interessant ist, einen Vergleich zu akzeptieren, wenn auf der anderen Seite zusätzliche Kosten im Spiel sind, richtet sich nach ganz anderen Kriterien, als denjenigen, die für die Entscheidung des einzelnen Käufers relevant sind. Die Entscheidungsparameter sind unterschiedlich und das reicht ja bereits aus für einen Interessenwiderstreit.


Nehmen wir mal an, dass der BGH oder ein anderes Gericht, auch bei anderen Dienstleistern zu der Entscheidung käme, dass sie sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen. Mit Ihren Argumenten kann man annehmen, dass der klassische Anwalt gegenüber dem prozessfinanzierenden Inkassounternehmen letztendlich schlechter gestellt wird und daher auch aus dem Rechtsmarkt verdrängt werden könnte. Müsste der Gesetzgeber reagieren oder muss das anwaltliche Berufsrecht nicht auch gelockert werden, sodass eine Gleichstellung zwischen Anwälten und Inkassounternehmen gegeben wäre?

Das ist die richtige Frage! Der Gesetzgeber hat zunächst einmal zwei Gestaltungsmöglichkeiten: Unterstellen wir, dass – entgegen der von mir vertretenen Position – die Auffassung des BGH in der Sache wenigermiete.de vom BGH auch auf die anders gelagerte Konstellation der Dieselkläger übertragen wird, dann muss der Gesetzgeber m.E. natürlich dafür sorgen, dass diese enorme, dem Willen des Gesetzgebers widersprechende Ausweitung der Rechtsdienstleistungsbefugnisse wieder zurückgeschraubt wird. Denn letztlich bedeutet die Entscheidung des BGH, dass im Grundsatz die gesamte Durchsetzung von Geldforderungen komplett von Inkassounternehmen wahrgenommen werden kann. Immer wenn es um die außergerichtliche oder gerichtliche Durchsetzung von Geldforderungen geht, können umfassend die Inkassounternehmen die Interessenvertretung der Anspruchsteller übernehmen. Das Anwaltsmonopol gibt es damit nur noch bei der Abwehr von Geldforderungen. Insofern bleibt den Anwälten als Monopolbereich nur noch die passive Rolle der Verteidigung von Mandanten gegen unberechtigte Forderungen. Das war natürlich überhaupt nicht das Anliegen des Gesetzgebers bei Verabschiedung des Rechtsdienstleistungsgesetzes. Der Gesetzgeber kann und sollte mit einer sehr einfachen Korrektur klarstellen, unter welchen Voraussetzungen ein Inkassounternehmen tätig werden darf. Denkbar wäre es etwa, den gerichtlichen Einzug streitiger Forderungen nur bei kleineren Streitwerten, meinetwegen bis zu einer Quote von 1.000 Euro – also für Fälle, wie sie der BGH entschieden hat (wenigermiete.de) – auch Inkassounternehmen zu erlauben. Das wäre eine denkbare, freilich auch in der Anwaltschaft sehr umstrittene Lösung im Sinne einer Rückführung der Befugnisse der Inkassounternehmen auf das, was ursprünglich vom Gesetzgeber des Rechtsdienstleistungsgesetzes gewollt war.

Die zweite Reformvariante wäre es, das weitgehende anwaltliche Verbot des Erfolgshonorars in § 49b BRAO etwas zu lockern. Diesbezüglich könnte ich mir durchaus gewisse Liberalisierungen vorstellen. Nicht überzeugend wäre dagegen aus meiner Sicht eine Einschränkung des Verbots der Kostenübernahme. Die Inkassounternehmen versprechen ja nicht nur, keine Anwaltsgebühren zu verlangen, sondern sich mit einer Erfolgsquote zu begnügen, sie versprechen darüber hinaus auch, im Falle eines Scheiterns vor Gericht die kompletten, an sich vom Mandanten zu tragenden Kosten der Gegenseite zu übernehmen. Das ist m.E. der viel problematischere Teil der Vereinbarung. Der Anwalt geht hier nicht nur das Risiko ein, selbst nur eine geringe oder gar keine Vergütung für seine Tätigkeit zu erhalten, sondern auch das deutlich weiterreichende Risiko, erhebliche Kosten tragen zu müssen und daher massive Verluste zu erleiden. Das heißt, der Anwalt agiert eigentlich wie ein Versicherungsunternehmen, indem er das Risiko eines negativen Verfahrensausgangs übernimmt. Das ist aber eine ganz anwaltsfremde Aufgabe, auch international wird eine solche Kostenübernahme sehr kritisch gesehen. Der Anwalt ist hier auf Gedeih und Verderb auf einen Prozesserfolg angewiesen, er wird selbst zur Partei und verliert seine Unabhängigkeit.

Eine Lockerung des Verbots der Kostenübernahme der Gegenseite wäre daher aus meiner Sicht keine sachgerechte Reform des Anwaltsrechts. Die notwendige Chancengleichheit lässt sich insoweit durch eine Liberalisierung des Anwaltsrechts nicht erreichen, hier bedarf es vielmehr umgekehrt eines auch die Inkassounternehmen treffenden Verbotes. Insgesamt meine ich daher, dass man zwingend zumindest für die gerichtliche Durchsetzung von höchst streitigen Forderungen die Befugnisse der Inkasso-Unternehmen wieder zurückschrauben muss.


Bei erfolgs- / prozessfinanziertem Rechtsschutz verfolgen entsprechende Anbieter die Begehren der Kläger ohne finanzielle Gegenleistung. Im Erfolgsfall des gerichtlichen Verfahrens verdient der Anbieter an einer Provision des erklagten Betrags. Verbraucher können ohne finanzielle Belastung und Prozessrisiko ihre rechtlichen Interessen durchsetzen, während Anbieter durch Online-Plattformen und technische Optimierung effektiv bei der Vorauswahl filtern und eine hohe Erfolgsquote im Verfahren erreichen. Große praktische Bedeutung haben Anbieter, die Diesel-Geschädigte und von Flugverspätungen Betroffene vertreten.


Wäre es dem Rechtsanwalt nicht theoretisch auch möglich, ein Inkassounternehmen zu gründen, um diese Regelung zu umgehen?

Ja, das ist derzeit auch meine Empfehlung. Die Entscheidung des BGH führt dazu, dass ich jedem Rechtsanwalt nur empfehlen kann, sich eine Registrierung als Inkassounternehmen zu besorgen, die er auch aufgrund seiner Sachkunde ohne Weiteres bekommen kann. Damit wird aber das ganze gesetzliche Regelungsmodell ad absurdum geführt. Nach aktuellem Stand müsste jeder Anwalt noch nebenher ein Inkassobüro unterhalten, um seine berufsrechtlichen Beschränkungen zu umgehen. Er kann dann jedem Mandanten sagen: "Übrigens, wenn du mir die Forderungen zum Inkasso abtrittst, dann wickele ich das Mandat über mein Inkassounternehmen ab, wir vereinbaren ein Erfolgshonorar und ich verspreche dir außerdem, dass du – wenn wir verlieren – auch die Kosten der Gegenseite nicht tragen muss.“ Eine solche Rechtslage wäre nun wirklich abwegig.


Wie wäre dann der klassische Rechtsanwalt bei dieser Entwicklung noch weiter konkurrenzfähig?

Tja, da gibt's nur eine Lösung: Legal Tech muss Anwaltssache sein. Das ist sie leider derzeit noch nicht, aber sie muss Anwaltssache „werden“. Der anwaltliche Beratungsmarkt wird sich ganz unabhängig von diesen Legal Tech-Inkassoangelegenheiten grundlegend verändern. Standardisierte Rechtsfragen, wie etwa Verkehrsunfälle, Kauf mangelhafter Waren, Mietstreitigkeiten, werden künftig zu sehr günstigen Konditionen von hierauf spezialisierten Kanzleien betreut werden, die ihre Software im Angebot haben, mit der man aus standardisierten Textbausteinen und mit ganz wenigen Eingaben in ein Programm eine Klageschrift zusammenstellen kann.

Das heißt, der sog. „Feld-Wald-Wiesen-Anwalt“, der heute mal einen Verkehrsfall betreut, morgen eine Nachbarschaftsstreitigkeit, übermorgen einen Scheidungsfall und dann ein kleines Strafmandat, der wird am Rechtsberatungsmarkt nicht überleben. Standardisierbare Rechtsangelegenheiten werden in Zukunft durch EDV erledigt.

Schon heute gibt es Softwareprogramme – auch bei den Dieselklagen – , die Klageschriften lesen und daraus eine Klageerwiderung entwerfen. Der Entwurf muss dann nur noch vom Anwalt durchgelesen und sodann elektronisch an das Gericht verschickt werden. Das anwaltliche Tätigkeitsfeld wird sich massiv verändern. Auf der einen Seite werden Softwareprogramme anwaltliche Tätigkeiten unterstützen oder sogar ersetzen, während auf der anderen Seite die High-Level-Beratung natürlich unverändert wichtig bleiben bzw. sogar noch stärker nachgefragt werden wird.


Das sieht auf jeden Fall schlecht für die Zukunft der Feld-, Wald- und Wiesenanwälte aus, aber hat es nicht auch positive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft?

Ja, ganz unbestreitbar. Für die Verbraucher gibt es auch positive Effekte, die man auch fördern sollte. Ich habe daher z.B. im Ergebnis nichts gegen die Entscheidung im Fall wenigermiete.de, denn in diesem Verfahren ging es um Kleinstschäden, die ein Anwalt im Prinzip gar nicht kostendeckend vertreten kann. In vergleichbaren Konstellationen sehe ich ein durchaus breites Anwendungsfeld für kostengünstige und verbraucherfreundliche Legal Tech-Angebote, durchaus auch von gewerblichen Anbietern. Das Problem entsteht für mich dann, wenn Rechtsstreitigkeiten vorliegen, die nach den gesetzlichen Vorschriften eine anwaltliche Vertretung vor Gericht erfordern, die aber nun faktisch in die Hände von Inkassounternehmen gelegt werden. Brisant wird es insbesondere dann, wenn es sich um höchst streitige Forderungen handelt, deren Durchsetzung nichts mehr mit dem eigentlichen Inkasso, also dem Einzug unstreitiger Forderungen zur Entlastung der Unternehmen, zu tun hat.

Ein gewisser Nachholbedarf besteht dagegen bei der Durchsetzung von Kleinstschäden, die bislang faktisch nicht geltend gemacht werden, weil Aufwand und Ertrag in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Das gesetzliche Instrumentarium, welches wir durch die Musterfeststellungsklage haben, erweist sich, wie wir bei der aktuellen Musterfeststellungsklage gegen VW sehen, als wenig geeignet. Aus gutem Grund haben die Parteien hier einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen, weil sich das gerichtliche Verfahren anderenfalls noch lange hingezogen hätte.


Diesbezüglich hatten Sie ja bereits vorgeschlagen, dass man eine Lockerung vornehmen könnte, indem man Streitwerte von bis zu 1000 Euro durchaus durch die neuen Geschäftsmodelle der Inkassounternehmen übernehmen lassen könnte, das wäre ja eigentlich eine gerechte Lösung für die Gesellschaft.

Ja genau, das könnte auch der Anwaltsmarkt gut vertragen, denn die Anwälte könnten sich dann selbst um die Entwicklung verbraucherfreundlicher Legal Tech-Angebote bemühen, die sie ihren Mandanten sodann anbieten. Die Wettbewerbsfähigkeit der Anwaltschaft bliebe erhalten und würde sogar gestärkt. Flankierend könnte man für solche Angebote auch die Vereinbarung eines Erfolgshonorars zuzulassen, um ein Level Playing Field zu erreichen. Also ich bin durchaus kein schlichter Verfechter der Beibehaltung des Status quo im Berufsrecht, ich habe seit jeher für notwendige Liberalisierungen im Berufsrecht gekämpft und zwar in vielen Bereichen. Im Grunde hat aber das Anwaltsmonopol unbestreitbar seine Berechtigung, weil der Mandant einen qualifizierten und unabhängigen Berater mit strengen Berufspflichten an seiner Seite haben muss.


Das Rechtsdienstleistungsgesetz soll gemäß § 1 RDG den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen schützen, Sie sehen die Wertung aus § 1 RDG jedoch dennoch in Gefahr. Wieso sollte ich mich als Rechtssuchender also lieber an eine/n Anwalt/Anwältin wenden als an ein prozessfinanzierendes Inkassounternehmen?

Die Einschaltung eines Rechtsanwaltes hat den klaren Vorteil, dass der Mandant einen Rechtsberater an seiner Seite hat, der durch ein strenges Berufsrecht gebunden und strikt der Vertretung der vom Mandanten vorgegebenen Interessen verpflichtet ist. Das Inkassounternehmen ist – sieht man einmal von § 4 RDG ab – keinen besonderen Berufspflichten unterworfen, bei einem Anwalt darf sich der Mandant dagegen sicher sein, dass dieser sich im Rahmen der BRAO hält, etwa keine widerstreitenden Interessen vertritt und die Schweigepflicht beachtet. Anwälte sind zur Unabhängigkeit verpflichtet und Organe der Rechtspflege. Der Mandant weiß auch, dass sein Anwalt die anspruchsvollen Hürden zweier Staatsexamen überwunden hat, also bestens qualifiziert und zudem einem sehr strengen Haftungsregime unterworfen ist. Das sind alles Pluspunkte für die Einschaltung eines Anwalts als Vertrauensperson, die gerade kein bloßer gewerblicher Dienstleister ist.


Warum ist es so, dass der Anwalt grundsätzlich gerade kein Erfolgshonorar vereinbaren darf und wieso ist die erfolgsunabhängige Vergütung im Vergleich zu den Inkassounternehmen wichtig?

Es gibt einen sachlichen Grund, Erfolgshonoraren skeptisch gegenüberzustehen: Der Anwalt ist in solchen Konstellationen selbst Partei. Er verfolgt eigene Interessen. Er muss ja damit rechnen, dass er im Falle eines Scheiterns umsonst gearbeitet hat. Er ist viel stärker involviert, wird daher nicht immer den gebotenen neutralen Blick auf die Sache haben und daher auch seine Rolle als unabhängiges Organ der Rechtspflege nicht optimal wahrnehmen können. Er weiß, dass seine Existenz als freiberuflicher Unternehmer auf dem Spiel stehen kann. Er vertritt also nicht nur fremde, sondern auch eigene Interessen, wird damit letztendlich selbst Partei, und zwar noch verstärkt bei Übernahme des Kostenrisikos, da es dann um den Einsatz des eigenen Vermögens geht. Der Unabhängigkeit dient es zweifellos, wenn der Anwalt sich sicher sein kann, dass er unabhängig vom Ausgang des Verfahrens eine angemessene Vergütung für seine Tätigkeit erhält. So kann er einerseits das Beste für seinen Mandanten geben und gleichwohl das Gebot der Sachlichkeit achten und auch die Gegenseite mit dem gebotenen Respekt behandeln. Das gilt insbesondere bei familienrechtlichen Streitigkeiten, bei denen es häufig um Vorwürfe geht, welche tief in die Persönlichkeitssphäre eingreifen.


Meine bisherigen Fragen betrafen nur eine Seite der Rechtspflege. Wie sieht es jedoch mit der Justiz aus, wenn davon auszugehen ist, dass durch die fortschreitende Prozessautomatisierung auch eine steigende Zahl an juristischen Dienstleistungen angeboten werden kann? Muss die Justiz im Sinne der Waffengleichheit oder sogar aus Gründen der Prozessökonomie technisch aufrüsten oder müssen wir am menschlichen Richter festhalten und dann der vollumfänglichen menschlichen Beurteilung für alle Rechtsfragen dringend festhalten?

(lacht) Da haben Sie im letzten Teil ja schon die Antwort gegeben. Natürlich wollen wir keinen Subsumtionsautomaten als Richter, das war schon in 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine verbreitete Forderung. Programme können immer nur eine Hilfestellung bieten, um etwa einen Vorschlag zur Entscheidung eines typisch gelagerten Normalfalles zu machen. Dabei bleibt jedoch stets noch ein Wertungsspielraum bei der Normauslegung. Ich glaube, jeder, der Jura studiert, hat schon mitbekommen, dass man mit einem reinen Ja-Nein-Antwortspiel selbst in Klausuren, die ja vom Sachverhalt sehr stark vereinfacht sind, nur selten zu brauchbaren Ergebnissen kommt. Natürlich muss auch die Justiz aufrüsten, auch sie braucht eine Entlastung bei organisatorischen Fragen und standardisierbaren Verfahrensschritten. Sicher wird es in Zukunft, so wie es jetzt schon Programme zum Verfassen von Klageschriften und Erwiderungen gibt, auch Programme für Richter geben. Hilfreiche Programme gibt es schon seit langem etwa im familienrechtlichen Bereich. Kein Richter rechnet heute aufwändig mit dem Taschenrechner den Versorgungsausgleich aus, dafür gibt es exzellente Programme, die diese komplizierte Arbeit übernehmen. Diese schon derzeit bestehenden Erleichterungen werden noch zunehmen, letztlich aber steht für die zu treffende Entscheidung immer doch der Richter mit seinem persönlichen Gewissen gerade.


Was meinen Sie, wie bewertet die Anwaltschaft generell das BGH-Urteil?

Sie kennen die Auffassung "zwei Juristen, drei Meinungen" und das gilt erst recht für Anwälte. "Zwei Anwälte, drei Meinungen". Die Anwaltschaft ist in dieser Frage sehr, sehr gespalten. Denn auch sie sieht natürlich auf der einen Seite den Aspekt des Verbraucherschutzes und will sich auch keinesfalls gegen sinnvolle Erleichterungen der Rechtsdurchsetzung von Verbraucherbelangen wehren. Das ist eine weltweite Diskussion: Access to Justice, der Zugang zum Recht auch für ärmere Bevölkerungsschichten und für den rechtsunerfahrenen Verbraucher muss verbessert werden. Dieser Entwicklung kann und will sich die Anwaltschaft nicht verschließen. Deshalb hört man auch von Seiten der Anwaltschaft keine Pauschalkritik an der aktuellen Rechtsprechung in dem Sinne von: "Unerträgliche Fehlentscheidung."

Auf der anderen Seite steht die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit. Die Kritik richtet sich daher gegen eine Entscheidungspraxis, die eine Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil der Anwaltschaft nach sich zieht. Wir brauchen ein Level Playing Field, auf dem Inkasso-Dienstleister und Anwälte in bestimmten Bereichen nebeneinander agieren, aber eben unter Wahrung von Chancengleichheit und identischen Wettbewerbsbedingungen. Um dieses berechtigte Anliegen geht es nach meinem Eindruck auch der Anwaltschaft. Mit einem Modell, wie ich es vorgeschlagen habe, nämlich Lockerungen bis zu einem bestimmten Gegenstandswert, könnte sich auch ein Teil der Anwaltschaft anfreunden. Andere haben dagegen noch stärkere Existenzsorgen, die man ebenfalls ernst nehmen muss. Der Feld-Wald-Wiesen-Anwalt, den wir schon angesprochen hatten, hat schon heute vielfach damit zu kämpfen hat, dass er zwar genügend Fälle hat, die ihn auslasten, er aber insgesamt aufgrund der geringen Streitwerte bei einer Abrechnung nach dem RVG nur geringe Einnahmen hat. Dieser Anwalt hat natürlich zusätzliche Sorgen, wenn sich abzeichnet, dass nun selbst solche kleinen Gegenstandswerte von spezialisierten Inkassounternehmen bearbeitet werden. Da sind Sichtweise und Interessen sehr vielfältig. Große Wirtschaftskanzleien sehen dagegen durchaus die Chancen der neuen Entwicklungen. Sie haben schon jetzt eigene Legal Tech-Labs eingerichtet und loten die aktuellen Entwicklungsmöglichkeiten aktiv aus. Gerade die internationalen Kanzleien sehen primär Geschäftschancen bei stärker gewerblichen Dienstleistungen und wollen diese natürlich auch wahrnehmen können.


Sie sind bisher unser einziger Hochschullehrer in unserer Interviewreihe, da stellt sich mir eine ganz besondere Frage: Was würden Sie den Jurastudentinnen und -studenten im Hinblick auf diese neue Entwicklung raten?

Liebe Studentinnen und Studenten: Ihr müsst euch unbedingt darauf einstellen, dass der Rechtsberatungsmarkt aktuell massiven Veränderungen ausgesetzt ist. In zehn Jahren wird die anwaltliche Tätigkeit ganz anders aussehen als heute. Das heißt, unsere Jurastudentinnen und -studenten müssen zwar keine Programmiersprachen lernen, sie müssen aber zumindest erkennen, was technisch machbar ist. Wichtig wird künftig sein, welche Möglichkeiten die künstliche Intelligenz zur Lösung von Rechtsfragen bietet. Gesamtverständnis, strategisches Denken wird noch wichtiger werden als zu viel Detailwissen, bei dem ohnehin der Computer mit den von ihm zu verarbeitenden Datenmengen nicht zu schlagen ist. Die Herausforderung für jede Juristin und jeden Juristen wird es sein, sich frühzeitig auf diese neuen Veränderungen des Rechtsberatungsmarktes einzustellen.


Sollte die Befassung mit der Entwicklung des Legal Tech an den deutschen Universitäten größeren Einfluss finden?

Es ist zwar bedauerlich, aber die Juristischen Fakultäten der deutschen Universitäten stehen derzeit noch am Anfang des notwendigen Veränderungsprozesses. Wir haben schlicht noch nicht in der Breite die doppelt als Jurist und Informatiker qualifizierten Hochschullehrer, die so tief in das Thema Legal Tech eingestiegen sind, dass sie entsprechende Vorlesungen anbieten könnten. Einige Universitäten sind aber bereits auf einem guten Weg. Zum Beispiel haben wir hier an der Universität zu Köln ein eigenes Kompetenzfeld "Digitalisierung" eingerichtet. Die dort entwickelten Lehrangebote bringen den Studierenden die Veränderungen durch die Digitalisierung nahe. In eigenen Labs können die Studierenden nicht nur neue Technologien ausprobieren, sondern auch die Anwendung bestimmter Programme erlernen. Insgesamt aber müssen wir sicherlich nachbessern. Im Prinzip bräuchten wir zusätzlich Dozenten aus dem Informatikbereich, die juristische Grundkenntnisse haben und daher die neuen Schnittstellen bedienen können.

Es wäre wenig zielführend, wenn wir nun alle Studierenden zwingen würden, reine Informatikvorlesung zu besuchen. Wir brauchen vielmehr Informatiker, die auf Juristen zugeschnittene Lehrangebote präsentieren können. Wir müssen uns dabei auch über ganz neue Lehrformate unterhalten. Hier sehe ich eine ganz große Herausforderung für alle Universitäten. Es ist höchste Zeit für Neuerungen.


Besteht die Notwendigkeit der Integration informatorischer Lehrveranstaltungen auch für die Jurastudentinnen und -studenten im Sinne eines "Informatik-Scheins"?

Ein solcher Informatik-Schein schadet ganz sicher nicht. Ich bin allerdings generell eher gegen weitere Pflichten und Zwänge im Jurastudium. Unser Vorlesungsprogramm ist schon derzeit mehr als gut gefüllt. Ich finde zwar, wir sollten von jedem Studierenden den Besuch einer oder zweier Veranstaltungen zu den sogenannten Schlüsselqualifikationen verlangen. Dabei sollten wir aber jedem die Wahlfreiheit geben, ob er nun lieber einen Kurs zur Rhetorik, ein Seminar zur Vertragsgestaltung oder eine Veranstaltung zur Buchführung besucht. In diese Reihe gehört in jedem Fall auch ein Informatikkurs für Jurastudierende. Jeder sollte hier seinen eigenen Schwerpunkt setzen können.

Herr Prof. Henssler, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.


Niclaas F. Dettke

Dieses Interview wurde von Niclaas F. Dettke geführt. Niclaas ist Student (der Rechtswissenschaft) an der Göttinger Universität und Mitglied bei eLegal.