"Die natürliche Reaktion eines Anwalts: ,Den verklage ich!' "

 

Am Anfang bekam Christian Solmecke für seinen Internetauftritt heftigen Gegenwind, bis hin zu Abmahnungen. Heute ist sein YouTube-Kanal der erfolgreichste Channel zum Thema Jura im deutschsprachigen Raum. Viele Kanzleien wittern nun auch das Geschäft bei YouTube und versuchen es ihm nachzumachen. Wie es dazu kam, dass er schon früh mit seinem Kanal gestartet ist, welche Probleme sich dadurch ergeben haben und wie der Digitalisierungsprozess seiner Kanzlei weiter verlief, besprechen wir in diesem Interview. Außerdem erfahrt ihr welche seiner Projekte bisher weniger erfolgreich gelaufen sind und wie seine Position zur aktuelle Konkurrenzsituation zwischen Anwälten und Legal Tech Anbietern ist.  - Luis Stade


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IT-Rechtsanwalt Christian Solmecke, LL.M. ist Partner der Kölner Kanzlei Wilde Beuger Solmecke und zeigt der Anwaltschaft seit Jahren, wie sich digitale Anwendungen gewinnbringend umsetzen lassen. Über seinen YouTube-Kanal wbs-law.tv erreicht er mehr als 700.000 Menschen und konnte so bisher 15.000 Mandate akquirieren. Christian Solmecke hat früh mit dem Digitalisierungsprozess der eigenen Kanzlei begonnen, dabei entstand die Idee, eine eigene Software auf den Markt zu bringen – es entwickelte sich Legalvisio, die erste cloudbasierte Kanzleisoftware. Die Erfahrungen, die Christian Solmecke bei der Digitalisierung der eigenen Kanzlei gesammelt hat, teilt er in dem von ihm mit verfassten Buch: „Legal Tech: Die Digitale Transformation in der Anwaltskanzlei. Ein Leitfaden für moderne Anwälte.“ Darüber hinaus ist er Mitorganisator des LegalTech MeetUp NRW. Neben seinen anwaltlichen und unternehmerischen Tätigkeiten ist Christian Solmecke Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Kommunikation und Recht im Internet (DIKRI) an der Cologne Business School. Vor seiner Tätigkeit als Anwalt arbeitete Solmecke mehrere Jahre als Journalist für den Westdeutschen Rundfunk.


Gestern haben Sie die Marke von 700.000 Abonnenten bei YouTube geknackt. Herzlichen Glückwunsch erstmal dazu!

Dankeschön! Ja, das war wirklich ein guter Erfolg. Nach zehn Jahren Arbeit haben wir die 700 000 Abos geknackt. Es sind immer solche Benchmarks, diese 100.000-Abonnenten-Schritte, die jedes Mal ein schöner Erfolg sind. Und es freut einen selbst immer, dass es doch noch weitergeht. Ich hätte am Anfang nicht gedacht, dass sich so viele Menschen für Jura interessieren.


Und das nächste Ziel ist die Eine-Million-Marke?

Richtig, die peilen wir für Ende 2022 an, absolut. Dann gibt's nochmal einen goldenen Play Button. Wir haben schon den silbernen Play Button, den gibt's bei 100.000 Abonnenten. Und man muss bis zur Million kommen, bis man dann den goldenen Play Button bekommt. Aber das haben wir jetzt quasi in greifbarer Nähe.


Hier möchte ich gleich mal tiefer einsteigen und zu Ihrem Werdegang auf YouTube erfahren: Wie sind Sie damals auf die Idee gekommen, YouTube-Videos zu produzieren und sich auf diesem, für einen Anwalt ungewöhnlichen, Terrain zu bewegen?

Das liegt sicherlich ein bisschen in meiner Person begründet. Ich selbst habe mein Jurastudium als Journalist finanziert. Ich war Nachrichtensprecher bei WDR 2, deswegen war mir die Publikation nicht völlig fremd. Und so kam es, dass ich als erstes mal unseren Kanzlei-Blog aufgesetzt hatte. Newsletter und Facebookseite haben wir auch ausprobiert. Und als dann YouTube als neues Medium aufkam, lag es ganz einfach auf der Hand: Wir starten mal damit und gucken, was passiert. Also insofern ist das ein bisschen mein natürlicher Spieltrieb, auch meine Background-Erfahrung als Journalist, da immer was Neues auszuprobieren.


Zusätzlich zu Ihrem YouTube-Kanal sind Sie noch auf weiteren Social-Media-Plattformen aktiv. Zum Beispiel bei Instagram im Format recht2go. Was war die absurdeste Frage, die Ihnen dort bisher gestellt worden ist?

Also da gibt's immer wieder absurde Fragen. Wir greifen die dann auf und machen dazu manchmal ein eigenes YouTube-Video. Eine Frage war mal: "Was ist, wenn auf der Raumstation ‚Mir‘ ein Amerikaner von einem Franzosen im russischen Modul erstochen wird?" Und daran haben wir uns wirklich die Zähne ausgebissen. Aber tatsächlich gibt es eine Rechtsordnung in der Raumstation. Es kommt auf die Module an, in denen man sich befindet. Man kann dann sagen: „Alles klar, in welchem Bereich war der Franzose in dem Moment? Gilt hier französisches Recht?“ Und so haben wir das aufgedröselt. Aber solche kuriosen Fragen erreichen uns tatsächlich ständig und wir versuchen das Beste daraus zu machen. Und irgendwie kriegt man es dann doch alles gelöst.


Wieder eine Wissenslücke geschlossen – interessant. Des Weiteren würde mich mal interessieren, wie die Reaktionen Ihrer Kollegen ausfallen? In der Anwaltschaft galt jahrelang ein Werbeverbot, wie reagieren Ihre Kollegen daher auf Ihren "fulminanten" Internet-Auftritt?

Am Anfang war das alles nicht fulminant, da war unser Auftritt noch ganz klein. Aber auf jeden kleinen Erfolg haben die Kollegen erstmal mit einer Abmahnung reagiert. Das ist die natürliche Reaktion eines Anwalts: "Den verklage ich!" Die haben uns bei der Kammer angezeigt. Es gab Abmahnungen. Man hat versucht, das klein zu drücken. Und das hat bei mir als jungem Anwalt mit Anfang 30 schon einige Magenschmerzen verursacht, weil ich noch gar nicht wusste, ob der Internet-Auftritt überhaupt zu Umsatz führen könnte. Das war eher so eine spinnerte Idee, dass man mal was mit YouTube versucht. Und dann haben die anderen Anwälte gesagt: Ja, das ist übertriebenes Anpreisen des Mandats, das ist verboten, das darf ein Anwalt nicht. Schau doch mal aufs Berufsrecht, Solmecke!

Ich war immer der Überzeugung: Naja, ehrlicherweise kann es auch nicht mehr sein, dass ich eine Kanzlei aufmache, ein Türschild anbringe und dann kommen die Mandanten von selbst, so wie das vielleicht ganz früher mal war. Und insofern haben andere Anwälte am Anfang skeptisch reagiert. Heutzutage muss man wirklich sagen, dass die Anerkennung zunimmt, weil auch immer mehr Kollegen und auch Großkanzleien selbst versuchen, einen YouTube- Kanal aufzubauen. Manche investieren da sogar sehr viel Geld rein, mit tollen Videoproduktionsteams und verstehen jetzt: So einfach ist das doch gar nicht. Und es ist nicht nur eine Plattform für Kinder, dieses YouTube, sondern da kann man richtig Geschäft machen. Wir haben alleine über YouTube 15.000 Mandate akquiriert. Das ist für uns ein Multi-Millionen-Dollar-Geschäft geworden. Das Erkennen jetzt auch andere Kanzleien. Aber klar, wenn man zehn Jahre Vorsprung und schon 3000 Videos produziert hat, ist das jetzt nicht in einem Jahr nachzumachen. Wir haben insgesamt sechs Millionen Video Views im Monat. Das ist schon eine Menge. Das liegt auch daran, dass wir mittlerweile so viele Videos im Markt platziert haben. Manche davon sind "Evergreens", die seit zehn Jahren immer wieder aufgerufen werden.


Wenn ich mich richtig erinnere ist ihr erfolgreichstes Video "10 Dinge, die Lehrer nicht dürfen", ist das richtig?

Ja, genau. Es war im Jahr 2017, als mein damals zehn Jahre alter Sohn, zu mir sagte: „Papa, was du da auf YouTube machst, ist ja vollkommen langweilig, du musst mal was Spannenderes machen.“ Damals, vor über drei Jahren – also sieben Jahre nach dem Start des YouTube-Kanals – hatten wir knapp 70.000 Follower. Und dann habe ich gesagt: „Was wäre mal spannend?“ Da hat er gesagt: „Spannend wäre ein Video zu 20 Dingen, die Lehrer machen, aber nicht dürfen.“ Und zum Beispiel lassen Lehrer Schüler während Klassenarbeiten oft nicht auf Toilette gehen und sagen: „Ne, ne, ne, schreibt mal schön die Klassenarbeit.“ Und ich habe dann dargestellt, dass das aber gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Und natürlich sind viele Schüler zu ihren Lehrern gegangen: „Guck mal hier, der Solmecke sagt, es verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention – ich muss auf Toilette gehen können!“ Solche simplen Fragen haben wir in dem Video gelöst: Darf ein Lehrer Spickzettel oder Liebesbriefe vorlesen?

Und das kam wirklich gut an. Wir haben, über zwei Millionen Zuschauer allein auf diesem Video gehabt. Und seitdem muss man auch fairerweise sagen, ging's richtig, richtig ab. Also sieben Jahre bis 70.000 und jetzt drei Jahre für die nächsten 600.000 Abonnenten. Das ist exponentiell gestiegen, nachdem wir die ersten Benchmarks erreicht haben.


Auf all ihren Social-Media-Kanälen wird deutlich, dass Sie einen ganz besonders positiven Zugang zur Digitalisierung und den damit einhergehenden neuen Mitteln und Anwendungen haben. Mich würde mal interessieren, woher kommt dieser positiven Zugang?

Also das liegt sicherlich schon weit in meiner Jugend begründet. Ich bin jetzt 47 und habe mit 12 Jahren – vor 35 Jahren – angefangen selbst zu programmieren. Damals hatten wir einen Apple II C Rechner im Haus. Mein Papa, der war Lehrer, später auch als Leiter der berufsbildenden Schulen bei uns im Kreis, hat den Schülern CNC Programmierung beigebracht. Aber ehrlicherweise glaube ich, hatte der gar nicht so viel Ahnung von Programmierung. Jedenfalls war ich da als Zwölfjähriger weiter als er und habe mir zusammen mit meinem Vater das Programmieren beigebracht.

Damals so ein bisschen CNC, es ging darum, wie man Drehmaschinen programmiert. Ich fand es einfach faszinierend, dass man Roboter und Maschinen mit Computer Codes zum Laufen kriegen würde. Danach habe ich dann kleine Vokabeltrainer-Programme geschrieben. Sprich: Ich bin eigentlich kein Digital Native, aber schon früh mit dem Thema Digitalisierung in Kontakt gekommen. Ganz früh hatte ich auch schon einen Internetanschluss. AOL war damals der erste große Anbieter, bei dem man überhaupt einen Zugang zum Internet hatte. Das ist eskaliert. Wir hatten eine 600 D-Mark-Telefonrechnung, es gab Riesenärger mit meinen Eltern. Bis 5 Uhr nachts habe ich im Internet gesurft, am nächsten Tag war aber Schule. Also die Digitalisierung hat mich in sehr jungen Jahren tierisch fasziniert und nie losgelassen. Witzigerweise scheine ich das auch weitergegeben zu haben.

Mein Sohnemann programmiert jetzt mit 13 die allerkrassesten Webanwendungen mit Python - mehr als ich je konnte. Da sieht man, wie die Digitalisierung uns alle überrollt hat. Dass Kinder jetzt wahnsinnig geile Sachen mit Programmiersprache machen können. Also davon war ich damals weit entfernt, wenn ich sehe, was da jetzt alles möglich ist. Das ist der Hintergrund. Deswegen fasziniert mich die Digitalisierung und deswegen glaube ich, jeder Bereich kann digitalisiert werden und die Juristerei ist geradezu prädestiniert dafür.


Wie sah das denn bei Ihren Partnern in der Kanzlei aus? Waren die dem Digitalisierungsprozess gegenüber genauso positiv eingestellt oder mussten Sie da vielleicht doch erst ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten?

Ja, also meine Partner sind 20 Jahre älter als ich und damit gar keine Digital Natives. Die Überzeugungsarbeit, kann man fairerweise sagen, kam mit dem Umsatz, den ich für die Kanzlei generiert habe. Das war schnell sehr überzeugend, weil ich mit jedem Schritt, den ich vorwärts gegangen bin, auch mehr Geld in die Kasse gespült habe und nachher wirklich recht traumhafte Umsätze erzielen konnte, was zum Glück bis heute so geblieben ist. Ich bin immer demütig und auf der Hut, ob es dabei bleibt, weil man sich jedes Jahr etwas Neues ausdenken muss. Und weil auch andere sehr gute junge Anwälte jetzt gerade auf den Plan kommen, mit denen man letztlich auch ein bisschen im Wettbewerb steht, aber die einen auch wieder inspirieren. Insofern bin ich meinen Partnern sehr dankbar, dass sie mich als jungen Anwalt schon an der langen Leine gelassen haben und mich weiterhin laufen lassen. Ich glaube, so konnte ich mich ganz gut entwickeln.


Können Sie kurz den Prozess skizzieren, wie die Implementierung von Legal Tech, der Digitalisierungsprozess, bei Ihnen in der Kanzlei abgelaufen ist? Was war zum Beispiel der erste Prozess, den Sie digital überführt haben?

Also das hat sicher begonnen mit digitalem Marketing. Ich war immer schon gut mit Blog-Beitrag dabei. Darüber haben wir auch das erste Mandatsgeschäft geworben. Dann kamen Facebook, YouTube und so haben wir erst mal die digitalen Medien genutzt, um Marketing zu machen. Und das war auch das, wo ich am Anfang den Fokus gelegt hatte: Mandate heranholen. Aber ich war diesbezüglich sehr unclever, weil ich komplett vergessen hatte, dass irgendjemand hintenraus das ganze Geschäft auch abarbeiten muss. Sprich ich habe akquiriert, aber mir keine weiteren Gedanken gemacht. Ich habe selbstverständlich auch selbst als Anwalt Fälle bearbeitet. Aber wie die Sekretariate das dann alles schafften? Ich will nicht sagen, es war mir zum damaligen Zeitpunkt egal, aber ich habe mir keine Gedanken dazu gemacht, bis man sah: Das eskaliert hier alles ein bisschen. Wir hatten Akten über Akten.

Zwei Studenten, die waren mehr oder weniger fest angestellt bei uns, als "Kellerkinder". Die haben nur im Keller nach Akten gesucht. Das war ein Irrsinn. Wir haben ja insgesamt 70.000 Menschen gegen die Musikindustrie vertreten. Das sind vor allen Dingen Eltern, deren Kinder bei BitTorrent und Co. Musik, Filme oder Spiele getauscht haben. Und wenn man 70.000 Akten im Keller hat, dann braucht man Aktenschränke über Aktenschränke und findet nichts mehr wieder. Sprich: Begonnen habe ich damit, das ganze Marketing zu digitalisieren. Das hat auch gut geklappt, ich habe aber wirklich viel zu spät darauf reagiert, dass hinten auch die Abarbeitungs-Maschinerie digitalisiert werden muss.

Dann habe ich mir einen Programmierer gesucht, der bis heute noch für uns arbeitet. Das ist jetzt auch schon fast zehn Jahre her und der hat uns eine Web-Schnittstelle an RA-MICRO gebastelt. RA-MICRO ist eine gängige Kanzlei Software, auf die wir dann über eine Web-Oberfläche von jedem Computer aus zugreifen konnten. Ansonsten musste man RA-MICRO relativ kompliziert installieren und das war der erste Schritt der Digitalisierung. Mittlerweile haben wir eine eigene Kanzlei Software: Legalvisio, die erste komplett cloudbasierte Kanzlei Management Software. Ich habe eine Company gegründet, die in Bonn sitzt, wo die Software programmiert wird. Vierzig Kanzleien arbeiten schon damit, aber begonnen hat alles mit diesem einen Entwickler, den wir für uns eingestellt haben. Daraus ist eine eigene Kanzlei Software geworden, mit der wir große Teile des anwaltlichen Arbeitens automatisieren können.

Also wenn ein Schriftstück von der Gegenseite kommt und ich weiß schon, wie ich darauf reagieren muss, passiert mit einem Knopfdruck folgendes: Ich antworte auf das Schriftstück und leite das Schriftstück selbst, zusammen mit meiner Antwort, an meinen Mandanten weiter. Und das ganze Package geht dann nochmal an die Rechtschutzversicherung, mit einem Knopfdruck, und zwar teilweise per Mail, per Fax oder per Post. Per Post machen wir das ohne, dass das bei uns in der Kanzlei ausgedruckt wird. Das geht über ein großes Postversandzentrum, da wird es ausgedruckt, mitsamt meiner eingescannten Unterschrift.

Also da haben wir richtig Druck auf die Pipeline bekommen und ein hohes Tempo in der Abarbeitung, hat aber auch zehn Jahre gedauert. Das war sicherlich erst sehr spät gestartet. Dafür, dass ich das Marketing so gut hinbekommen habe, habe ich mit der Digitalisierung inhouse zu lange gewartet. Würde ich heute anders machen.


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WILDE BEUGER SOLMECKE Rechtsanwälte ist eine der bundesweit führenden Medien- und Urheberrechtskanzleien. Neben klassichen Beratungsleistungen gehören digitale Angebote wie Abmahnchecks und Datenschutzgeneratoren zum Portfolio der Kanzlei.


Interessant. Und können Sie etwas dazu sagen, wie die Software Legalvisio im Moment angenommen wird? Wer sind die typischen Kunden? Wer wendet das in der Praxis an?

Also wir haben jetzt 40 Kanzleien, die damit arbeiten. Wir sind allerdings auch erst seit Mitte 2020 richtig am Markt, sodass man uns buchen kann. Wir haben ersten Quartal 2021 überhaupt erst mit einem Vertrieb gestartet. Ich habe jetzt gerade für März meinen ersten Vertriebsmitarbeiter eingestellt. Also da sieht man, dass wir lange entwickelt haben und dass es nochmal ein Weg war, die Software, die wir erst nur für unsere Kanzlei entwickelt haben, so kanzleiunabhängig zu gestalten, dass sie auf alle Kanzleien in Deutschland passt. Dafür habe ich mich mit Jörg Haas und der Harvey Cloud AG zusammengetan. Das ist eine große Company in Bonn, die Cloudsoftware entwickelt, vor allem im Bereich ERP, also Enterprise Resource Planning. Und die Kanzleien, die wir im Moment haben, haben eine Größe von ein bis 18 Mann. Das Gros erwirbt bis zu zehn Lizenzen. Schön ist, dass darunter auch drei Wirtschaftskanzleien mit 20-30 Lizenzen sind und eine jetzt 53 Lizenzen gebucht hat. Das ist schon relativ fett. Und diese Wirtschaftskanzleien habe ich jetzt vermehrt in den Fokus genommen, weil die ähnliche Lösungen brauchen, wie ich sie für unsere mittelständische Kanzlei schon entwickelt habe.

Wir haben da ein perfektes Time-Sheet-Modul und einen Knopf für unlukrative Akten. So erfahre ich: Welche Akten sind unlukrativ, was lohnt sich nicht? Ich habe eine Akte mit 7,50€ Stundensatz. Die rechne ich nach Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ab. Da verdiene ich also unter Mindestlohn und sowas finde ich über die Software heraus. Das lieben gerade Wirtschaftskanzleien! Da dringen wir gerade in Märkte vor, die ich so gar nicht erwartet hätte. Für die meisten Großkanzleien sind wir aber einfach noch zu sehr Startup, als dass wir jetzt easy 30/40 Mann Kanzleien bekommen könnten. Die sind eher noch etwas reservierter. Aber die ersten testen das jetzt auch schon. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch in diese Märkte vordringen können, in die größeren Kanzleien. Also der Plan ist das auf jeden Fall und als cloudbasierte Software, wir nutzen die Amazon Cloud mit Rechenzentren in Frankfurt, sind wir komplett skalierbar. Also auch bei einer 1000-Mann Kanzlei – auf Knopfdruck ist das installiert. Es ist irre.


Spannend, dass Sie sich auf diesem Feld bewegen und selber Legal Tech Anwendungen auf den Markt bringen. Die meisten Anwendungen, die man kennt, werden aus der Privatwirtschaft vorangetrieben, vor allem von Nichtjuristen. Sehen sie das als Vorteil, dass Legalvisio direkt aus einer Anwaltskanzlei heraus konstituiert wurde?

Ja, und ich kann auch nachweisen, dass es ein Vorteil ist, weil wir natürlich Kundenfeedback einholen und die Kunden sagen: „Hier sieht man, die Entwickler sind Kollegen, also andere Anwälte. Man sieht, dass das aus einer Anwaltskanzlei heraus entwickelt worden ist, weil die Knöpfe dort sind, wo man sie braucht. Ihr stellt die richtigen Fragen. Ihr wisst, dass man einen Schriftsatz immer auch an die Rechtschutzversicherung weiterleiten muss. Das habt ihr einfach im Blut, weil ihr mit Rechtschutzversicherungen zusammenarbeitet. Ihr wisst, dass man in einer Akte einen dicken Knopf haben muss: Time-Sheet-Modul: "Zeiterfassung starten!" Wir sind in der Akte. Wir rufen den Mandanten jetzt an. Jetzt muss der Knopf neben der Telefonnummer liegen. Jetzt drücken. Ihr wisst, dass man auch auf unlukrative Akten gucken muss.“ Also das ist das, was wir an Feedback bekommen. Das ist wirklich super. Und das ist ein Riesenvorteil.

Hinsichtlich der Software-Seite, also der Frage, wie man Cloudsoftware programmiert, bin ich unendlich dankbar, dass wir mit der HW Partners AG einen super starken Partner haben, der schon seit Anfang der 90er Jahre Cloudsoftware entwickelt. Wir haben also schon 30 Jahre Erfahrung im Cloud Business – damals wusste man noch gar nichts, da hieß es noch "Software Service" und nicht "Cloud". Die HW Partners AG hat schon sehr früh angefangen, auf dieses Remote Arbeiten zu setzen.


Dazu würde ich gern mal eine Prognose von Ihnen erfahren. Was meinen Sie, in welche Richtung wird die Entwicklung noch gehen: Wird es sich dahingehend entwickeln, dass Anwaltskanzleien, wie Sie das jetzt auch vorgemacht haben, speziell ihre eigenen Software- Lösungen entwickeln? Oder wird man da vielleicht eher auf Angebote auf dem Markt zurückgreifen?

Das ist nichts für jede Kanzlei. Wir haben in die Entwicklung rund 2 Millionen Euro investiert, das ist erstmal ein richtiger Batzen! Und das wird auch noch lange dauern, bis wir das Geld wieder zurückhaben. Andererseits muss man fairerweise sagen, mit Hilfe der Software konnten wir unsere Prozesse so beschleunigen, dass wir eine enorme Zeitersparnis generieren konnten – das schnellere Abarbeiten lohnt sich für uns. Deswegen glaube ich allerdings nicht, dass sich jetzt sonderlich viele Kanzleien daran trauen werden. Und ehrlicherweise sehe ich jetzt auch, es dauert in der Entwicklung alles länger, als man denkt. Ich bin ein eher ungeduldiger Mensch. Wenn ich was haben will, will ich es sofort haben.

Meine Entwickler sagen mir: „Haste in zwei Wochen“ und mein Geschäftspartner sagt: „Ja, wenn sie dir sagen du hast das in zwei Wochen, darfst du das mit drei multiplizieren.“ Es ist für mich und meine Kunden, die Anwälte, schon Wahnsinn, immer auf die Module zu warten.

Die Kollegen sagen: „Hey Christian, wann kommt das Modul? Das wollen wir jetzt haben." Und ich sage: „Ja, ich will es auch haben. Programmiert schneller, Leute.“ Also so läuft das hier jeden Tag. Das ist ganz spannend. Aber ich könnte noch mehr Speed draufhaben. Wir sind acht Mitarbeiter und stocken jetzt auf, im April kommen noch ein weiterer Programmierer und ein weiterer Vertriebsmitarbeiter. Also das geht jetzt richtig rund in der Company.


Ich bin auf jeden Fall gespannt, was da noch kommen wird und verfolge das Ganze. Neben diesen digitalen Werkzeugen, wie Legalvisio, die den anwaltlichen Arbeitsalltag erleichtern, gibt es auch immer mehr Geschäftsmodelle, die direkt mit den klassischen Beratungsdienstleistungen konkurrieren, zu nennen sind da Anbieter wie Flightright oder geblitzt.de. Was meinen Sie, ist die neue Konkurrenz für den Anwalt alter Schule gefährlich?

Nein. Es gibt nur Flightright und geblitzt.de. Ohne Witz. Die werden immer wieder genannt. Da ist kaum was am Markt. Man muss beachten, dass Flightright in einen Markt vorgedrungen ist, den wir Anwälte gar nicht haben wollten. Jemandem 100 Euro wegen einer Flugverspätung zu besorgen, da hatten wir Anwälte überhaupt keinen Bock drauf. Die haben das Thema Access to Justice besetzt. Also den Zugang zum Recht zu schaffen.

Dort, wo wir Anwälte keine Lust hatten, sind die mit Technologie reingegangen und haben gesagt: Wenn ihr es nicht schafft mit euren herkömmlichem Papierakten, das lukrativ für eure 80 Euro, die ihr dafür kriegt, zu bearbeiten, müssen wir es so standardisieren, dass Computer das zu 99% bearbeiten. Finde ich erst mal cool. Bei geblitzt.de oder wenigermiete.de ist das ein bisschen was anderes. Die gehen voll in den anwaltlichen Markt rein. Wobei wenigermiete.deauch Sachen, wie die Mietpreisbremse macht, bei denen vielleicht auch viele Anwälte sagen: "Ach komm, hier geht es um 50 Euro Miete rauf oder runter, das ist nicht so prickelnd“, dass ich da auch nicht die Gefahren sehe.

Hartz-IV-Widerspruch wäre auch noch zu erwähnen. Die haben in sehr großen Dimensionen Hartz-IV-Widersprüche geltend gemacht, dass hatten die Anwälte im Sozialrecht auch nicht so auf dem Schirm, sodass ich persönlich sage, klar nehmen die uns Anwälten ein bisschen was weg, aber das haben wir ja immer wieder. Die Steuerberater zum Beispiel haben uns das gesamte Steuerrecht weggenommen.

Wir müssen natürlich auf der Hut sein. Ich persönlich möchte da aber mitmischen. Ich habe selber ähnliche Projekte aufgesetzt. Wir haben blitzereinspruch.de, das funktioniert ähnlich wie geblitzt.de. Wir haben clever-mahnen.de aufgesetzt, das ist etwas ähnliches wie ein kostenloses anwaltliches Inkasso. Das sind Modelle, die wir dann letztlich entwickelt haben, um einfach dabei zu sein, weil ich schon sehe, dass der anwaltliche Markt in Bewegung ist. Aber ich begrüße das eher. Natürlich werden einige auf der Strecke bleiben. Natürlich ist das ein Stück weit Disruption, aber für die feine Vertragsgestaltung werden wir noch lange Anwälte brauchen. Für einen Gerichtsprozess wahrscheinlich auch noch lange, vielleicht nicht mehr für kleine Gerichtsprozesse bis 5.000 Euro. In Estland werden zum Beispiel schon Computer entwickelt, die Streitschlichtungen bis 7.000 Euro durchführen können.


Erfolgsfinanzierter Rechtsschutz

Bei erfolgsfinanziertem Rechtsschutz verfolgen entsprechende Anbieter die Begehren der Kläger ohne finanzielle Gegenleistung. Im Erfolgsfall des gerichtlichen Verfahrens verdient der Anbieter an einer Provision des erklagten Betrags. Verbraucher können ohne finanzielle Belastung und Prozessrisiko ihre rechtlichen Interessen durchsetzen, während Anbieter durch Online-Plattformen und technische Optimierung effektiv bei der Vorauswahl filtern und eine hohe Erfolgsquote im Verfahren erreichen. Große praktische Bedeutung haben Anbieter, die Diesel-Geschädigte und von Flugverspätungen Betroffene vertreten.


Wie sie gerade gesagt haben, bewegen sich die Legal Tech Anbieter vor allem in einem Bereich, in dem die Anwälte vorher nicht tätig waren oder die Verfahren für den Anwalt nicht lukrativ aussahen. Würden Sie sagen, da hat vorher ein echtes Rechtsdurchsetzungsdefizit geherrscht?

Absolut. Jetzt kommt jemand, dem es egal ist, ob du eine Rechtsschutzversicherung hast oder nicht. Er möchte nur 25% des Erfolgs abhaben und versucht, deine Rechte durchzusetzen. Ich habe selber mal Flightright in Anspruch genommen, weil ich wissen wollte, wie das funktioniert. Da hatte mein Flug von Berlin nach London acht Stunden Verspätung und wurde später sogar gecancelt. Ich habe alles eingegeben und wurde ständig über meinen Status und die nächsten Schritte informiert. Früher hätte ich es mit dem gecancelten Flug auf sich beruhen lassen. Es hätte bei mir in der Kanzlei viel zu viel Arbeit erzeugt, dass sich erst jemand ins Fluggastrecht einarbeitet. Ich habe nachher 400 Euro bekommen und habe denen 100 abgegeben – das fand ich total fair.


Meinen Sie, die neue Konkurrenzsituation würde Anlass bieten, die alten Materien des RDG und RVG – also die anwaltliche Gebührenabrechnung – zu erneuern?

Gut, da gibt es jetzt den Regierungsentwurf, der ist im Januar auf den Markt gekommen. Die BRAK, also die Bundesrechtsanwaltskammer, und der Deutsche Anwaltverein laufen Sturm dagegen, weil Anwälte bis 2.000 Euro plötzlich auf Provisionsbasis tätig werden sollen. Das ist sozusagen der Untergang des Abendlandes für die Anwälte – nur auf Erfolgsbasis, du musst mich nur bezahlen, wenn ich erfolgreich bin. Gucken wir mal nach Amerika rüber. Da ist das Gang und Gäbe, dass Anwälte auf Erfolgsbasis tätig werden. Jetzt seitens der Bundesrechtsanwaltskammer zu sagen, Anwälte dürfen doch nicht auf Erfolg tätig werden, das ist kein Schützen der Anwaltschaft. Flightright, wenigermiete.de, Hartz-IV-Widerspruch, die sind doch schon lange auf Erfolgsbasis tätig. Der Bundesgerichtshof hat im wenigermiete- Urteil gerade bestätigt, dass Companies, die sich eine Inkassolizenz besorgen, auch Rechtsberatung durchführen können. Und Inkassodienstleister dürfen ja ohnehin auf Erfolgsbasis tätig werden.

Ich sehe es gegenteilig als die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutschen Anwaltverein. Wir müssen jetzt auch bei den Anwälten schnell Erfolgshonorare einführen, sonst werden uns die Inkassodienstleister den Rang ablaufen. Dass das zu einem Niedergang der Qualität der Rechtsberatung führt, sehe ich überhaupt nicht. Das passiert bereits jeden Tag. Nur dass Inkasso-Dienstleister mit Tricks vorgehen, die vom Bundesgerichtshof sogar abgenickt wurden. Wir Anwälte gucken in die Röhre, weil wir diese Möglichkeiten nicht haben.

Deswegen muss schnellstmöglich eine Revolution her. Ich hoffe, dass das Gesetz noch ausgeweitet wird. Ich befürchte allerdings, dass es nicht passiert, denn die Standesvertretungen laufen dagegen Sturm.


Sehr interessante Position, die Sie vertreten. Die Zukunft wird zeigen, in welche Richtung die Entwicklung noch gehen wird. Ich habe auf Social Media gesehen, dass Sie jetzt eine Rechtsberatung per WhatsApp anbieten. Können Sie kurz skizzieren, an wen sich dieses Angebot richtet und wie das Projekt angenommen wird?

Ja, das ist Anwalt2go, unser neuestes Projekt, das wir ausprobiert haben. Aber Rechtsberatung per WhatsApp ist ein Flop. Wir haben fünf Kunden.

Die Idee war, dass man für 9 Euro im Monat seinen Anwalt in der Tasche hat und so viel fragen kann, wie man will. Die fünf Kunden haben mich auch sehr viel gefragt. Aber die Allgemeinheit hat offenbar noch nicht den Bedarf, einen Anwalt immer per WhatsApp kontaktieren zu können. Ich hatte das anders vermutet, deswegen sind wir das Projekt angegangen. Anwalt2go.eu, das war das, was wir uns da ausgedacht haben. Der Markt hat es nicht angenommen. Offenbar möchten Deutsche lieber eine Rechtsschutzversicherung abschließen, dann haben sie das Komplettpaket. Beim WhatsApp-Anwalt ist es eher so, dass man mit einem juristischen Problem mal eben den Anwalt kontaktiert, der dann eine Video- Antwort bereitstellt. Aber so ist es immer. Ich teste zehn Dinge an, eins funktioniert. Beim WhatsApp-Anwalt hat es nicht geklappt. Vielleicht sagen die Leute auch: Was muss ich schon einen Anwalt fragen? Vielleicht googlen die Leute lieber. Aber ehrlicherweise, wenn ich eine Krankheit google, endet alles bei Krebs. Und so ähnlich endet das bei Jura mit Haft, wenn ich anfange zu googeln, was passiert, wenn ich geblitzt worden bin.


Eigentlich hätte ich auch vermutet, dass die Leute Bedarf nach so einer Möglichkeit hätten. Sehen Sie denn die Perspektive, dass eine solche Beratung vielleicht von automatisierten digitalen Chatbots durchgeführt werden könnte und man am Ende gar keinen Anwalt mehr für die Kommunikation braucht?

Ja, in gewissen Bereichen schon. Wir haben mit IBM Watson einen Chatbot für abgemahnte Filesharing-Nutzer aufgebaut. Das hat leider auch nach anderthalb Jahren nicht geklappt. Viel zu viele schlechte Treffer, die dabei herausgekommen sind. Es sollte so funktionierte, dass der Mandant über eine Website eine Frage stellt und Watson sucht, ob wir schon mal eine Antwort zu der Frage in der Vergangenheit formuliert haben. Er macht einen Antwortvorschlag, der Anwalt checkt nur noch kurz, ob das plausibel ist und drückt dann auf Freigabe. Oder er sagt, dass es nicht funktioniert und trainiert Watson damit direkt.

Das war die Grundidee. Eingestampft. Hat nicht geklappt. Ich habe es nicht hinbekommen. Da kriegen es andere besser hin. Ich weiß, dass es da mega Success Storys gibt. Von allen Möglichen, die sagen: „Chatbots klappt alles super.“ Kann ja sein. Ich würde gerne mal hinter die Kulissen gucken, wie die es gemacht haben. Ich kann nur sagen, bei mir hat es nicht geklappt. Ich bin froh, wenn ich eine smarte Dokumentengenerierung habe. Von KI sind wir noch weit entfernt. Also sowas wie Smart Documents oder Legal Design Click Tools, womit ich mir Verträge per Klicken zusammenstellen kann. Das ist die aktuell nahe Zukunft. Das sind die sogenannten „low hanging fruits“, die ich mir jetzt greifen kann, um meine Arbeit schneller zu machen. Aber von KI und Chatbots sind wir leider noch sehr weit entfernt, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass das für gewisse Segmente schon klappen könnte, aber ich habe es nicht hingekriegt.


Es ist schön zu sehen, wie offen Sie den ganzen Entwicklungen gegenüberstehen und was Sie alles ausprobieren. Mich würden Ihre Prognosen interessieren. Was meinen Sie, wann wird die letzte Papierakte aus den deutschen Kanzleien und Rechtsabteilung verschwinden?

Das ist eine schwierige Frage. Also ich schätze mal, das kann noch 20-30 Jahre dauern. Das liegt daran, dass die Papierakte immer noch parallel geführt wird. Aber Kanzleien, die sich dem Digitalen bislang völlig verweigert haben, wird es schon 2024 nicht mehr geben, denn ab dann gibt es das verpflichtende elektronische Anwaltspostfach. Da muss jede Kanzlei ihre Akten digital führen bzw. Schriftstücke digital haben. Das war übrigens auch für Legalvisio ein großer Boost, dass das jetzt alles digitalisiert werden muss. Da waren wir zur rechten Zeit am rechten Ort. Aber dass sich Leute, die lange mit Papier gearbeitet haben, das nicht abgewöhnen können, das wird einfach noch so bleiben. Ich sehe das an meinen beiden Geschäftspartnern. Wir haben die digitale Akte. Die wollen allerdings immer noch das Papier und lassen sich noch alles ausdrucken. Also da bin ich der letzte, der zwanzig Jahre älteren Leuten sagt, ihr müsst euch aber daran gewöhnen, digital zu arbeiten. Und ich sehe auch ein paar junge Anwälte bei mir, die wesentlich jünger als ich sind und immer noch Papier haben wollen, weil sie es so gewohnt sind und sich nicht davon verabschieden wollen. Ich glaube, das Papier wird weiter existieren, aber parallel zur digitalen Akte. Die digitale Akte ist sehr nah und sehr greifbar und wird in wenigen Jahre in jeder Kanzlei eingeführt sein.


Eine weitere Prognose würde ich gerne von Ihnen zum Thema Marketing und Onlinepräsenz hören. Meinen Sie, dass es für kommende Anwälte auch zwingend notwendig sein wird, sich eine Online-Präsenz aufzubauen? Eine Marketing-Universum, wie Sie das vormachen?

Also wie wir es machen, ist auch schon wieder anstrengend, wir veröffentlichen jeden Tag ein YouTube-Video. Ich finde, das ist alles unrealistisch. Es ist auch für mich manchmal sehr anstrengend. Es kostet einfach Energie. Eine gute Online-Präsenz ist sehr wichtig, Haken dran. Aber ob ich nur noch über Online-Marketing gehen würde, weiß ich nicht. Es gibt hervorragende Anwälte, die im Vorstand von irgendwelchen Vereinen oder im Mieterschutzbund sind. Wenn ich Mietrechtsanwalt bin, warum sollte ich nicht der Anwalt des Mieterschutzbundes sein und habe darüber meine Mandate. Warum sollte ich nicht im Kredit-Bereich Kooperationen mit Maklern haben. Dann habe ich dort meine Deals. Warum sollte ich nicht im Bereich rund um Blitzer einen Deal mit Sixt haben. Das ist alles nicht online. Da gibt es sehr viele Möglichkeiten und ich bereue es, dass ich diese ganzen Offline-Möglichkeiten nie gut hinbekommen habe. Ich bin zwar ein guter Networker, aber ich bin auch gerne abends bei meiner Familie. Das heißt, ich tummele mich gar nicht so irrsinnig viel auf den ganzen Veranstaltungen, zu denen ich auch in Köln eingeladen werde. Da ließe sich bestimmt offline auch noch richtig viel reißen. Das ist ja die traditionelle Art, wie Anwälte akquirieren, mit Netzwerken, unterwegs sein, auf Veranstaltungen gehen. Ich glaube da sind nach wie vor große Chancen. Das ganze Onlinemarketing ist nur hinzugekommen. Ich fand das immer eine sehr bequeme Art, denn ich kann zuhause sitzen. Ich kann das skalieren. Ich kann anderen sagen, was sie zu tun haben. Das lag mir grundsätzlich sehr nahe, da kann ich mich auf die Steuerung beschränken, muss nicht auf jedes Netzwerk-Treffen selbst raus. Aber da gibt es so tolle andere Möglichkeiten außerhalb von Online-Marketing. Da glaube ich, ist der Zug noch lange nicht abgefahren, wenn man kein Digital Native ist.


Da sieht man mal wieder ganz klar, dass neue Anwendungen Hand in Hand gehen mit den herkömmlichen Methoden, dass eines von dem anderen nicht komplett verdrängt wird.

Absolut.


Wir als Initiative richten uns vor allem an Jura-Studierende. Welche Kompetenzen sollten sich Jura-Studierende Ihrer Meinung nach zwingend aneignen? Muss jeder programmieren lernen?

Nein. Also das ist mir selbstüberlassen. Wenn ich keinen Bock darauf habe, sollte ich das auch nicht tun. Aber ich würde schon mal schauen, ob ich nicht einen Legal-Tech-Twitteraccount abonniere, meinetwegen vom Legal Tech Verband Deutschlands, ob ich mich nicht einmal irgendwelchen Legal Tech Meetup-Gruppen anschließe. Zum Beispiel gibt es ein Meetup, was ich immer veranstalte, das Legal Tech Meetup Nordrhein-Westfalen. Also wer Lust hat, kann in dieser Meetup-Gruppe mal vorbeischauen. Aber das wäre etwas, wo ich schon als Jura-Studierender einfach mal reinschnuppern würde. Dann bekommt man automatisch ein bisschen was von dieser Technologie mit. Ich muss dafür nicht programmieren können. Es reicht auch nachher, wenn ich Programmierer beauftrage, mir etwas zu erstellen. Aber ich sollte reinschnuppern. Das kann mir im Zweifel das Leben retten. Da die Digitalisierung voranschreitet, muss ich ein paar Technik-Skills einfach auch mit draufhaben und zumindest verstehen, wie die Technik in diesem Bereich läuft.


Für viele YouTube-Nutzer gehören ihre Videos zum Alltag. Als letzte Frage würde ich deshalb gerne wissen: Welche Kanäle verfolgen Sie denn regelmäßig?

Ich gucke interessanterweise gar kein YouTube. Mein Sohn sehr viel. So viel, dass wir das immer wieder eindämmen müssen. Aber ich selbst gar nicht. Wenn ich mal irgendein Problem habe, weil ich irgendwie einen Nagel in die Wand hauen muss, dann gucke ich, wie andere das gemacht haben.

Ich gucke auch kaum Instagram, kaum Facebook. Selbst wenn ich da viel poste und einiges an Content kreiere. Ich hatte dann auch irgendwann so viele Follower und war mit so vielen connected, dass die Inhalte für mich immer uninteressanter wurden, weil ich die Menschen nicht mehr kannte, die da irgendwas gepostet haben. Und von irgendjemandem das Marmeladenbrötchen am Morgen zu sehen, was er da gerade wieder über Facebook fotografiert hat, brauchte ich jetzt auch nicht ständig. Und gerade in der Corona-Zeit, muss ich auch ehrlicherweise sagen, sind die Inhalte auch alle nochmal viel langweiliger geworden.

Jedenfalls was Instagram und Facebook betrifft. YouTube finde ich schon sehr stark. Ab und zu bin ich auf TikTok unterwegs. Da schaue ich alle zwei Wochen mal für eine halbe Stunde rein. Auf Instagram gucke ich mir schöne Bilder an, aber da ist auch viel Schlechtes dazwischen. Auch wenn ich viel Content erstelle, bin ich gar nicht der perfekte Konsument.


Das ist fast eine asketische Art und Weise, Social Media zu konsumieren.

Ja, das ist wirklich eine homöopathische Dosis. Ich kann es aber auch akzeptieren, wenn andere da voll heiß drauf sind und die ganze Zeit da abhängen. Aber ich selbst hatte eine starke Phase, wo ich das alles aufgesaugt habe. Die ist vorbei. Ich gehe lieber an der frischen Luft ein bisschen spazieren oder joggen und höre dabei einen Spiegel-Podcast in der wenigen Freizeit, die noch bleibt.


Das muss – bei aller Liebe für das Digitale – natürlich auch sein. Ich bedanke mich ganz herzlich für das anregende Gespräch.


Luis Stade

Das Interview wurde von Luis Stade geführt. Luis studiert im dritten Semester Politik- und Rechtswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und ist Mitglied bei eLegal.