"Was viele unbewusst in ihrem Studium als Lernstütze machen, ist schon der erste Schritt zum Legal Engineering."

 

Von Wirtschaftsjuristen oder Syndikusanwälten hat jeder schon gehört, doch was genau macht ein Legal Engineer? Diese Frage hat uns Charlotte Kufus beantwortet. Egal ob es sich um Rechtsabteilungen oder Kanzleien handelt, Legal Engineering nimmt mehr an Bedeutung zu und etabliert sich als nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der juristischen Arbeitsweise. Wir haben auch mit ihr darüber gesprochen, welchen Herausforderungen sie sich als Mitgründerin eines Start-ups konfrontiert stellen muss und wie es ist, als Quereinsteiger die Rechtsbranche verändern zu wollen.  - Julia Held


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Charlotte Kufus studierte zunächst Psychologie an der Universität in Würzburg und ging dann für den Master in Social and Organisational Psychology nach London, welchen sie mit Auszeichnung abschloss. Kurz nach dem Studium kam sie zurück nach Berlin, wo sie das Start-up Legal OS mitgründete.


Vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst für dieses Interview. Vorrangig soll es darum gehen, mehr über den Beruf des Legal Engineers zu erfahren. Starten wir direkt mit der ersten Frage: Ihr seid bei Legal OS drei Gründer. Ich glaube, ihr wart auch schon vor der Gründung im Jahre 2018 miteinander befreundet, oder?

Genau. Wir sind 2017 zurück nach Berlin gekommen und haben angefangen an dem Projekt zu arbeiten. Im selben Jahr haben wir auch das Exist Gründerstipendium bekommen. Die GmbH gründeten wir offiziell im März 2018. Wir drei kannten uns zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre.


Ihr habt eurem Start-up den Namen Legal OS gegeben. Wie seid ihr auf diesen Namen gekommen?

Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Wir waren zu dritt in Frankreich, um ein paar Tage intensiv an unserer Vision und der Strategie zu arbeiten. Bei der Gelegenheit kam natürlich auch unser Name ins Gespräch. Schnell wurde klar, dass wir dieses Unternehmen nicht nur gründen, um ein Endprodukt zu liefern, was Legal Teams die Möglichkeit gibt, ihre Arbeit effizienter zu gestalten, sondern um eine Infrastruktur für alle möglichen Rechtsdienstleitungen der Zukunft zu bauen. Wir bieten Kanzleien und Start-ups neben der Legal OS Plattform also die Möglichkeit eigene Produkte auf unsere Engine, also auf Legal OS Forest, aufzubauen. Sie konzipieren und bauen also das Endprodukt, das perfekt zu den Bedürfnissen ihrer direkten Kunden und Mandanten passt und wir liefern dafür die Kern-Technologie, also quasi das Backend. Das ist der eine Aspekt. Der andere ist unsere Daten-Ebene. Anders als Prozess-Automatisierungs-Tools, bei denen am Ende einfach ein Ergebnis steht, arbeiten wir mit Datenmodellen, die von Legal Engineers gebaut werden. Wenn man so einen Entscheidungsbaum durchläuft, dann wird auch der Rechenweg gespeichert, wie man zu dem Ergebnis gekommen ist. Wenn man beispielsweise von komplexen Dokumenten ausgeht, dann steht am Ende nicht nur ein Dokument als Output, sondern auch der Weg dahin ist dokumentiert. Das heißt alle juristischen Entscheidungen, die man getroffen hat und alle Daten, die man eingegeben hat, werden gespeichert und können dann rückblickend analysiert und wiederverwertet werden. Und das ermöglicht nochmal ein ganz neues Feld an Möglichkeiten, Rechtsdienstleistungen zu skalieren. Legal OS als Name ist breit genug, um diese Möglichkeiten einzuschließen.


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Legal OS ist ein Technologie-Startup spezialisiert auf den Bereich Legal Tech aus Berlin und möchte hierfür eine codebasierte Bibliothek juristischer Inhalte aufbauen. Legal OS bietet Kanzleien die Möglichkeit, ihr Wissen in einer digitalen, interaktiven Datenbank zu strukturieren, um die Erstellung, Verwaltung und Zusammenarbeit an Verträgen weitgehend zu automatisieren. Das Vertragswissen wird weitgehend von den Juristen des Portals konvertiert, gepflegt und gesichert. Auf Grundlage einer umfangreichen Bibliothek maschinenlesbarer juristischer Inhalte und einem rechtslogiksensiblen Vertragsgenerator können Kunden von Legal OS vereinfacht und schneller als bisher Verträge/Vertragsvorlagen erstellen und verwalten.


Ihr habt alle drei kein Jura studiert beziehungsweise vor Legal OS nichts in dieser Richtung gemacht. Wie schwer war es denn, anschließend als Quereinsteiger überhaupt in diesen juristischen Bereich oder in den Legal Tech Bereich einzusteigen?

Es ist natürlich keine Selbstverständlichkeit, gerade in Deutschland nicht. Ich selbst hatte mit Recht bis zu diesem Punkt wenig Kontakt. Ich empfand es immer als ein sehr interessantes Feld, besonders weil es ein so regelbasiertes System ist. Um in diesen, mir fremden Bereich einzusteigen, war es extrem wichtig viel nachzufragen, gut zuzuhören, viel über unsere Nutzer und den Markt zu lernen und unsere Annahmen ständig zu hinterfragen. In den letzten vier Jahren haben wir mit unzähligen Juristinnen und Juristen gesprochen. Außerdem hatten wir von Anfang an sehr gute Jurist:innen in unserem Team. Das ist entscheidend. Es ist nicht unbedingt einfach, ich glaube aber, dass es gleichzeitig eine große Chance ist, als „Außenseiter“ in ein System reinzugehen. Man sieht vielleicht ganz andere Potenziale, als jemand, der seit Jahren in diesen Dynamiken und Strukturen denkt und lebt. Wir hatten also eine andere Perspektive auf die Sache, aber meiner Meinung nach konnte das nur erfolgreich sein, weil juristische Expertise dazukam.


Das heißt, Kommunikation war auch von Anfang an immer sehr wichtig.

Die Kommunikation mit potentiellen Nutzer:innen und Kund:innen war von großer Bedeutung. Wir haben eigentlich von Anfang an versucht, unsere Idee und dann das erste Produkt zu verkaufen, weil wir wissen wollten, ob da überhaupt ein Bedürfnis oder eine Nachfrage im Markt ist, die wir mit unserer Technologie bedienen können. Meine Erfahrung ist: Erst wann man versucht ein Produkt wirklich zu verkaufen, kriegt man auch ehrliches Feedback aus dem Markt, was ungemein dabei hilft, das Produkt weiterzuentwickeln.


Ihr habt euch direkt nach dem Studium selbstständig gemacht. Wie viel Mut hat es euch gekostet und wie hat es sich angefühlt, diesen Riesenschritt zu gehen?

Für mich hat es sich gar nicht als ein Riesenschritt angefühlt. Ich war fertig mit meinem Studium. Ich fand das Thema wahnsinnig interessant und stellte fest, dass endlich Bewegung in einen Markt geriet, in dem bislang wenig Innovation stattgefunden hat. Ich sah also in erster Linie eine große Chance. Den Schritt in die Selbständigkeit zu gehen ist sicherlich schwieriger, wenn du schon zehn Jahre in einem etablierten Unternehmen gearbeitet hast, diese Strukturen gewohnt bist und vielleicht auch ein gewisses Gehalt und Sicherheit erwartest. Bei mir traf all das nicht zu.

Rückblickend habe ich sicherlich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse. Gründen ist etwas, worüber es viel zu lesen gibt, aber was es tatsächlich bedeutet, habe ich erst in dem Prozess der Gründung und in den letzten Jahren wirklich erfahren. Und ich kann immer noch voll überzeugt sagen, dass es absolut die richtige Entscheidung war.


Erzähl mal! Was sind die drei Besten und die drei schlimmsten Dinge deiner Arbeit?

Zu den besten Dingen gehört auf jeden Fall, dass ich Gestaltungsfreiheit habe. Das betrifft nicht nur das Produkt als solches, sondern auch unsere Unternehmenskultur. Das zweite ist, dass ich als First Time Founder jeden Tag unglaublich viel lerne. Wenn ich mir überlege, wie ich in die Unternehmung gestartet bin und was ich in der Zeit in allen möglichen Bereichen dazugelernt habe... das ist wahnsinnig erfüllend. Das andere ist das Team. Der Austausch mit schlauen und inspirierenden Menschen, die sich mit unserer Vision und mit unserem Unternehmen identifizieren und bereit sind, die Extra-Meile zu gehen.

Zu den schlechteren Aspekten: Eine große Herausforderung ist das Priorisieren von Aufgaben. Was ist wichtig? Was kann warten? Ich habe viele Bälle gleichzeitig in der Luft. Überall brennt es und ich muss stets nach dem 20:80 Prinzip gehen, um voran zu kommen. Wenn ich zu perfektionistisch vorgehe oder mich zu tief in die Sachen hineingrabe kann das sehr schädlich sein, weil ich das Große und Ganze aus den Augen verliere. Gleichzeitig habe ich große Lust, mich in Themen viel tiefer reinzudenken und Dinge wirklich zu durchdringen. An der Uni hat mir akademisches Arbeiten immer großen Spaß gemacht. Meine Rolle im Unternehmen ist eigentlich das komplette Gegenteil. Ich habe sehr wenig Zeit und damit meine ich nicht unbedingt nur Freizeit oder Urlaub. Es fällt mir schwer, mir Zeit zum Denken zu nehmen. Dabei ist es essenziell mir Zeit freizuschaufeln, um strategisch denken zu können; einen Schritt zurückgehen, raus aus diesem operativen Alltagsdenken. Und vielleicht der dritte Punkt, den ich nicht so sehr mag, ist, dass ein Start-up knapp an Ressourcen ist. Zeit und Ressourcen sind endlich und das verursacht häufig Stress und fordert auch eine Geschwindigkeit, die man an den Tag legen muss. Das ist sowohl psychisch als auch körperlich anstrengend. Die Geschwindigkeit hat natürlich auch einen großen Reiz auf mich.


Ihr als Start-up seid im Bereich der Rechtsberatung im Vergleich zu einer Anwaltskanzlei eine neuere Art von Unternehmen, das heißt. es gibt diese Start-up Kultur noch nicht so lange wie Kanzleien. Und ihr habt den Beruf des Legal Engineers mit eingeführt. Wie schwierig ist es, einen neuen Beruf so bekannt zu machen, dass sich die Leute trauen, sich darauf zu bewerben oder das Ganze so hinauszutragen, dass man sagt auch das ist ein Beruf, den man machen kann als Jurist?

Das ist eine spannende Frage! Ich würde den Legal Engineer weniger als neue Berufsrichtung und mehr als eine vielversprechende und spannende zusätzliche Kompetenz bezeichnen. Wir haben als Legal OS dazu beigetragen, dass Legal Engineering weiter etabliert wird und ein Werkzeug bekommt. Aber es gab Legal Engineers schon lange bevor es uns überhaupt gab. Ein Legal Engineer ist schlicht ein:e sehr gute:r Jurist:in, der oder die in der Lage ist, mit Tools juristisches Wissen zu digitalisieren und automatisieren. Mit Legal OS bieten wir einem Legal Engineer ein Werkzeug, um das wirklich in der Qualität leisten zu können, wie es Jurist:innen tatsächlich brauchen. Wir haben mit vielen Kanzleien und Unternehmen gesprochen, bei denen es diese Kompetenzen schon gibt. Grundsätzlich ist es so, dass jeder Jurist, jede Juristin oder sogar auch Paralegals diese Kompetenzen erwerben und Legal Engineers werden können. Die Berufe Anwalt und Legal Engineer schließen sich nicht aus, sondern können kombiniert werden.


Legal Engineering stellt also mehr eine Spezialisierung dar?

Ich bin davon überzeugt, dass jede:r Arbeitgeber:in ein großes Interesse an dieser Fähigkeit haben wird. Diese Frage wird sich gar nicht mehr stellen, wenn eine neue Generation in die Kanzleien und Rechtsabteilungen kommt, die selbstverständlich mit Computern und Apps aufgewachsen ist und die es gewohnt ist, mit digitalen Tools umzugehen.


Welche Berufe gibt es noch in eurem Start-up?

Unser Team besteht aus etwa einem Drittel Legal Engineers und einem Drittel Software-Entwicklern. Die Softwareentwickler sind die, das No-Code Tool gebaut haben, das die Legal Engineers nutzen, um juristisches Wissen zu digitalisieren und zu automatisieren ohne eine einzige Zeile Code selbst schreiben zu müssen. Sie bauen außerdem die Plattform, die auf die Datenmodelle zugreift und von Anwalt:innen, der Rechtsabteilung oder auch von den Fachabteilungen, also von Nichtjuristen genutzt wird. Das kennt man sicher, das ist ein Frage-Antwort-System und einfach zu benutzen. Dann haben wir ein Produktteam, das diese Tools entwirft und gestaltet. Außerdem haben wir ein kleines Business Development Team, das Marketing und auch den Vertrieb macht.


Super interessant! Dann zur meiner Meinung nach wichtigsten Frage. Was genau macht ein Legal Engineer? Wie sieht die inhaltliche Arbeit aus?

Das Wichtigste ist, dass ein Legal Engineer juristisches Wissen abbildet, indem Zusammenhänge und Logiken in eine Struktur übersetzt werden. Das machen sowohl unsere Legal Engineers und auch die Legal Engineers unserer Kunden. Sie nehmen sich entweder Dokumente oder auch Prozesse und bilden diese in einem Datenmodell ab. Das ist die Kernarbeit. Legal Engineers arbeiten häufig in Teams mit anderen Legal Engineers oder mit jemandem zusammen, der inhaltlichen Input gibt. Als Beispiel nehmen wir mal die erfahrene Anwältin in einer Kanzlei, die dem Legal Engineer Input gibt, wie genau der Prozess aussieht oder was genau die Konsequenz von einer gewissen rechtlichen Entscheidung ist. Der Legal Engineer übersetzt das in eine Struktur und baut damit skalierbare Automatisierungen. Diese können dann genutzt werden, um künftig einen effizienten, rechtskonformen und nicht repetitiven Prozess zu ermöglichen. Am Ende steht ein Legal Output, also z.B. ein Dokument oder ein Ergebnis einer Prüfung.


Damit könnten wir auch direkt zu den Kompetenzen übergehen. Würdest du sagen, sofern man sich für die Richtung Legal Engineering interessiert, muss man gut Verknüpfungen herstellen und in Zusammenhängen denken können?

Auf jeden Fall. Man sollte in erster Linie ein richtig guter Jurist oder eine richtig gute Juristin sein. Es ist auch nichts anderes, denn du bildest die Prozesse und Strukturen, die du implizit in deinem Kopf hast, einfach explizit ab. Es ist natürlich auch notwendig, dass man eine gewisse Affinität hat, ein digitales Tool zu nutzen, sowie die Freude daran, sehr präzise und genau zu arbeiten. Wenn man eine Automatisierung gebaut hat, dann wird diese potenziell hundert- oder tausendfach genutzt. Das heißt, wenn dort Fehler vorhanden sind, können die Folgen schwerwiegend sein. Das ist vergleichbar mit der Softwareentwicklung, da muss auch die Qualität stimmen, deswegen haben wir uns viele Prozesse bei der Softwareentwicklung abgeschaut, z.B. Testing, Reviews und Teamarbeit. Teamfähigkeit ist eine weitere Kompetenz, die ein Legal Engineer mitbringen sollte. Wir haben in unsere Abläufe Review-Schleifen implementiert. Das heißt, ein Legal Engineer baut die erste Struktur und dann schaut der nächste drüber und bringt eigenen Input, wie man bestimmte Abhängigkeiten vielleicht besser abbilden kann. Dieser ständige Austausch sichert auch die Qualität der Datenmodelle, weil nicht nur ein paar Augen draufgucken, sondern viele. Man sollte in der Lage sein, mit Fehlern und Kritik umgehen zu können, wenn jemand vielleicht auf die Struktur, die du gebaut hast, eine andere Sichtweise hat oder einen Fehler entdeckt. Ich kann das als Nichtjurist:in natürlich nicht sagen, aber von unseren Legal Engineers höre ich oft, dass es diese Fehlerkultur in Kanzleien häufig nicht gibt.


Es sind also mehrere Faktoren, die jemand als Legal Engineer mitbringen sollte. Es gibt nicht genau diese eine Kompetenz, die man haben sollte.

Genau. Und vielleicht noch einen Hinweis: Auch im Legal Engineering gibt es unterschiedliche Teilbereiche, für die man ein besonderes Talent haben kann. Die einen kommunizieren wahnsinnig gut mit denen, die ihnen inhaltlichen Input geben. Die anderen können sehr gut Strukturen abbilden, wieder andere können sehr gut Automatisierungen und Formeln hinterlegen. Das sind alles relevante Fähigkeiten, die der Legal Engineer aber nicht alle gleich gut beherrschen muss. Spaß an der Sache ist auch nicht zu unterschätzen!


Wie lange dauert es bei euch im Schnitt, bis jemand eingearbeitet ist?

Das Tool Legal OS Forest kann man innerhalb kürzester Zeit bedienen, es kommt aber natürlich darauf an, was man als Legal Engineer erreichen möchte.

Wenn man einen einfachen Prozess oder ein einfaches Dokument automatisieren will, geht das innerhalb von wenigen Stunden. Möchte man hochkomplexe Datenmodelle bauen, also beispielsweise mehrere voneinander abhängige Dokumente automatisieren, in denen auch Kalkulationen verwendet werden, braucht es mehr Zeit und Übung. Vergleichbar ist das vielleicht mit Tools zum Webseiten bauen. Dort kann man mit Entwürfen arbeiten und in kurzer Zeit eine ziemlich solide Website bauen. Möchte man aber eine sehr interaktive, sehr individuelle Webseite, dann braucht es dafür mehr Erfahrung und Übung. Und natürlich kommt es auch darauf an, ob einem diese Arbeit grundsätzlich liegt oder ob sie einem mehr Übung abverlangt.

Du kannst auch ein Blatt Papier nehmen und darauf einen juristischen Prozess mit seinen Abhängigkeiten aufzeichnen. Was viele unbewusst in ihrem Studium als Lernstütze machen, ist schon der erste Schritt zum Legal Engineering.


Wir gehen mal weg von der Kompetenz des Legal Engineers und werden wieder ein bisschen Allgemeiner. Legal Engineers arbeiten oft in Start-ups oder Unternehmen, die von Nicht-Juristen betrieben werden. Dadurch wird es auch Nichtjuristen möglich, auf dem Markt der Anspruchsdurchsetzung aufzutreten und wettbewerbsfähig zu sein. Was würdest du jemandem antworten, der diese ganze Entwicklung kritisch sieht oder ihr ängstlich gegenübersteht?

Ich würde jemandem, der der Entwicklung kritisch gegenübersteht, sagen: „Passt auf, dass ihr diese Entwicklung nicht verpasst, sondern schaut, was ihr dazu beitragen und daraus ziehen könnt.“ Den Anwalt wird es immer geben und es ist toll, wenn durch Nicht-Juristen neue Impulse und Ideen in diese Welt kommen. Das kann man besonders zu seinem Vorteil ausspielen, wenn man früh genug mitentwickelt. Im Markt sieht man beispielsweise, dass Kanzleien, vor allen Dingen kleinere Kanzleien, kein eigenes Team von Entwicklern aufbauen wollen, sondern sich zur Co-Creation mit Start-ups entscheiden. Das haben wir mit unseren ersten Kunden auch gemacht. Wir entwickeln gemeinsam unser Produkt weiter, und bauen Ihnen das, was sie für ihre täglich Arbeit benötigen. Immer mit dem Blick darauf, dass es auf andere Kanzleien übertragbar und damit skalierbar ist. Und so kriegen sie sehr früh einen Vorsprung, ohne dass sie selbst Produktentwicklung usw. durchführen müssen, was sehr teuer und im Zweifel auch nicht die Kernkompetenz einer Kanzlei ist. Deswegen sehe ich viel Potenzial in Co-Creation von Jurist:innen und Nicht-Jurist:innen.


Man kann sagen, es findet keine Verdrängung des Anwalts statt, sondern vielleicht eher eine Veränderung oder eine leichte Verschiebung von gewissen Aufgaben, für die dann neue Aufgaben hinzukommen können.

Das finde ich auch so spannend an der neuen Generation von Jurist:innen. Die sind aus ihrem Alltag sehr verwöhnt, dass ihnen langweilige und repetitive Aufgaben von digitalen Tools abgenommen werden und wollen gleichzeitig, dass ihr Arbeiten eine Bedeutung hat. Und ehrlich: Es ergibt schlicht keinen Sinn, dass Menschen, die so gut ausgebildet sind wie Jurist:innen, Arbeiten übernehmen, die repetitiv sind. Das Ziel sollte sein, diesen Teil der Arbeiten zu automatisieren, um den Fokus auf die komplexen und beratenden Aspekte der Rechtsdienstleistung zu legen. Sobald die ersten anfangen, automatisierbare Aufgaben mit Hilfe von Tools zu erledigen, müssen die anderen deswegen auch irgendwann nachziehen. Dass die Entwicklung kommen wird, ist klar.


Letztlich hält damit im Rechtsbereich nur eine Entwicklung Einzug, die in anderen Branchen schon lange präsent und daher auch viel weiter fortgeschritten ist.

Und gerade deswegen muss die junge Generation am Ball bleiben. Für mich ist es halbwegs nachvollziehbar, wenn die älteren Entscheider sich für die letzten Berufsjahre keinem Risiko aussetzen wollen. Für den neuernannten Partner oder die neuernannte Partnerin einer Kanzlei überwiegt allerdings nicht nur das Risiko, irgendwann überrollt zu werden. Er oder sie lässt auch ziemlich viel auf der Straße liegen, was man jetzt noch gut einsammeln kann. Das konnte man in anderen Branchen gut beobachten.


Da wir gerade darüber sprechen. Wo siehst du den Bereich des Legal Engineering in, sagen wir mal, zehn Jahren. Glaubst Du, dass dieser bis dahin als fester Bestandteil von Unternehmen und Kanzleien etabliert ist oder sagst du, es dauert vielleicht doch länger?

Ich glaube, dass Legal Engineering ein ganz alltäglicher Bestandteil der Arbeit von Legal Teams in Kanzleien und Rechtsabteilungen wird. Und auch, dass es eine der Kompetenzen sein wird, die bei Anwältinnen und Anwälten gern gesehen ist.


Dann würde ich noch eine Frage zu den Universitäten stellen, und zurück an den Anfang der juristischen Ausbildung gehen. In Passau gibt es mittlerweile einen Legal Tech Studiengang, der die rechtswissenschaftliche Ausbildung mit der Wirtschaftsinformatik verbindet. Empfohlen wird, gleichzeitig Rechtswissenschaften auf Staatsexamen zu studieren. Findest du es gut, wenn man Legal Tech schon in der Uni etabliert? Oder würdest du sagen, das braucht es vielleicht nicht?

Ich finde es richtig, dass es diese Ausbildungen gibt. Ich würde sogar sagen, ich sehe es kritisch, dass es eine Zusatzausbildung und damit auch eine Zusatzbelastung ist, die nicht in der normalen Ausbildung integriert ist. Die Inhalte dieser Ausbildung sind aber sehr entscheidend. Es besteht z.B. die Gefahr, dass in Legal Tech-Studiengängen der Fokus zu sehr darauf gerichtet ist, was rechtlich erlaubt ist, wie Legal Tech reguliert wird etc. Das ist zwar eine sehr wichtige und spannende, aber nur eine Komponente. Auch eine Einführung ins Programmieren ist sicherlich sinnvoll. Allerdings werden die meisten Juristinnen und Juristen mit 25 auch nicht mehr zu Star-Entwickler:innen. Das ist aber auch überhaupt nicht nötig, weil es mit No-Code-Plattformen eine Zwischensprache gibt, die Jura in Code übersetzen kann. Das wichtigste ist, dass in diesen Ausbildungen sehr praktisch, das heißt an konkreten Use Cases gearbeitet wird. Dass Legal Tech und Legal Engineering ein elementarer Bestandteil der juristischen Ausbildung sein sollte, steht für mich außer Frage.


Ich finde es auch sehr gut und ich hoffe, dass andere Universitäten noch nachziehen und Legal Tech nach und nach ein bisschen besser integriert wird, auch wenn es eine Weile dauert.

Ich möchte abschließend sagen, dass man sich nicht entscheiden muss, ob man Anwältin oder Legal Engineer werden möchte, sondern dass beides bestens miteinander vereinbar ist. Wir haben eben bei uns die Erfahrung gemacht, dass das Legal Engineering unsere Legal Engineers zu besseren Jurist:innen gemacht hat. So sollte man das Ganze meiner Meinung nach betrachten.


Das ist ein sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Interview.


Interviewer

Dieses Interview wurde von Julia Held geführt. Julia ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Göttinger Universität und im Vorstand unserer Initiative.