Legal Tech in High-Profile Litigation

 

In den USA schon lange akzeptiert und anerkannt, sind Massenklageverfahren in Deutschland nach wie vor ein heikles Thema. Mit Herrn Dr. Wolf von Bernuth haben wir nicht nur über Massenklageverfahren an sich gesprochen, sondern auch und vor allem über die Arbeitsabläufe, die hinter diesen stecken und die Vereinfachungsmöglichkeiten, die Legal Tech heute schon bietet oder in Zukunft hoffentlich einmal bieten kann. Darüber hinaus liefert er uns einen Einblick in die Zukunft des myRight-Klagevehikels und vergleicht für uns die Handhabung einzelner Arbeitsschritte, wie zum Beispiel die Discovery-Phase, während des Verfahrens in unterschiedlichen Ländern.  - Tim Becker


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Dr. Wolf H. von Bernuth studierte Rechtswissenschaften in Freiburg, New York und Berlin und promovierte anschließend in Hamburg. Er ist federführender Partner für das VW-Mandat bei Hausfeld und auf nationale und internationale Prozesse und Schiedsverfahren spezialisiert. Vor seiner Tätigkeit bei Hausfeld war er lange Partner bei der Großkanzlei Gleiss Lutz und einige Zeit selbstständig. Neben seiner beruflichen Tätigkeit ist er Dozent im Bereich International Dispute Resolution an der Humboldt-Universität Berlin und hat unter anderem den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages bei der Reform des KapMuG beraten.


Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben. Hausfeld ist Vorreiter auf dem Gebiet Legal Tech und wurde mehrfach, insbesondere auch für das Klagemodell im VW-Verfahren und in anderen großen Streitigkeiten, als innovativste Kanzlei des Jahres ausgezeichnet. Wie und warum kam bei Ihnen das erste Mal das Bedürfnis nach der Vereinfachung von Arbeitsabläufen mit Legal Tech auf? Und wissen Sie noch, wann das war?

Nun, Hausfeld ist ja noch gar nicht so lange auf dem deutschen Markt aktiv und wie es der Zufall wollte, kamen im Jahr 2016, als wir unser deutsches Büro aufgemacht haben, zwei große Prozesskomplexe auf den Markt. Das ist einerseits das VW-Verfahren gewesen und andererseits eine große kartellrechtliche Streitigkeit, bei der es um das LKW-Kartell geht. In beiden Verfahren spielen wir eine führende Rolle. In Bezug auf beide Fälle hat sich natürlich die Frage gestellt, wie man diese enorme Menge an geschädigten Kunden, einmal VW-Kunden und dann aber eben auch Käufer von LKW, möglichst effizient unter einen Hut bekommt. Die Frage war jeweils, ob ein außergerichtlicher Vergleich möglich sein würde. Wir haben uns dann mit myRight in Hamburg zusammengetan, die ja historisch aus dem Fluggäste-Bereich kommen und daher auch schon die Expertise haben, wie man mit solchen Massenverfahren umgehen kann. Dann haben wir uns sozusagen gegenseitig befruchtet und diese Konzepte entwickelt, auf deren Grundlage wir jetzt tätig sind.


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Das Hauptbetätigungsfeld von Hausfeld Rechtsanwälte LLP, die 12 Büros weltweit betreibt, ist die kartellrechtliche Prozessführung und dabei insbesondere die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen für eine große Anzahl von Geschädigten. Die Sozietät vertritt DAX-Konzerne und internationale Mandanten sowie kleinere und mittlere Unternehmen und setzt Prozessfinanzierungsmöglichkeiten ein. Die Kanzlei arbeitet insbesondere im Kartellschadensersatz eng mit Industrievertretern und Verbänden zusammen und setzt auf LegalTech-Lösungen, um Schadensersatzansprüche vieler Geschädigter für die Geltendmachung in einem einzigen Verfahren zu bündeln.


Waren die Erfahrungen, die Hausfeld in den Staaten – wo Class Actions schon länger möglich sind – mit denen vergleichbar, die myRight bereits in Deutschland gesammelt hatte?

In Amerika funktionieren Class Actions völlig anders als das, was wir hier in Deutschland machen. Es ist ja auch immer wieder in der Presse zu lesen gewesen, wir wollten hier in Deutschland oder in Europa Class Actions einführen. Das ist natürlich Unsinn. Wir haben hier eine ganz andere Rechtstradition, eine ganz andere Art und Weise, wie wir Dinge zu Gericht bringen und vor Gericht verhandeln. Genau deshalb haben auch die Erfahrungen, die Hausfeld in Amerika gemacht hat, hier keine entscheidende Rolle gespielt. Es ging wirklich darum zu schauen, was man hier – wir sind ja auch alles deutsche Juristen – mit den Möglichkeiten, die das deutsche Recht bietet, machen kann. Aber es ging nie darum, irgendeine Art von amerikanischer Class Action nach Deutschland zu transportieren.


Vielen Dank für die Klarstellung. Aber um noch einmal auf Hausfeld und Ihre persönlichen Erfahrungen einzugehen: Sie haben vorher 20 Jahre lang in einer Großkanzleien gearbeitet, davon 19 Jahre lang bei Gleiss Lutz. Danach waren Sie anderthalb Jahre lang selbstständig und jetzt sind Sie seit knapp drei Jahren bei Hausfeld federführend für das VW Mandat. Wenn Sie die Arbeit bei Hausfeld mit der bei Gleiss Lutz oder in der Selbstständigkeit vergleichen: Wo liegen die gravierendsten Unterschiede oder Gemeinsamkeiten?

Der Unterschied zu meiner Zeit bei Gleiss Lutz ist gar nicht so groß. Hausfeld ist keine klassische Großkanzlei, es gibt insgesamt auf die ganze Welt verteilt etwa 100 Anwälte. Das ist wesentlich kleiner als viele andere Großkanzleien. Aber was mir sehr gut gefällt ist, dass wir fachlich auf demselben Niveau arbeiten, wie das eine deutsche Großkanzlei tut. Erfreulich ist auch, dass wir hervorragenden Nachwuchs bekommen, weil es doch eine ganze Menge hochqualifizierter junger Juristen gibt, die nicht in einer typischen Großkanzlei arbeiten wollen. Hausfeld hat außerdem eine ganze Reihe von Pro Bono Aktivitäten. Wir vertreten beispielsweise Greta Thunberg und ihre Mitstreiter im Rahmen ihrer Menschenrechtsbeschwerde in New York als Pro Bono Mandat. Und das ist, glaube ich, etwas, was bei vielen jüngeren Leuten gut ankommt: Dass wir eben nicht nur auf der Seite der Banken und der großen Unternehmen stehen, sondern auch gegen solche Unternehmen klagen. Auf der anderen Seite haben wir aber auch viele große Mandanten, die wir anwaltlich vertreten. Hausfeld ist also, insbesondere in Deutschland, keine Kanzlei, die "industriefeindlich" oder so etwas ist. Typisch für uns ist, dass wir eher in der Klägerrolle sind, auch wenn wir keine reine Klägerkanzlei sind, sodass wir stark auf die Führung von hochklassigen Prozessen und Schiedsverfahren spezialisiert sind.


Kommen wir zu Legal Tech: Würden Sie der These zustimmen, dass die Einführung von Legal Tech letztlich eine Budgetfrage darstellt? Ich könnte mir vorstellen, dass gerade diese Tools, die Entwicklung, die Weiterführung der Algorithmen, eine sehr kostspielige Angelegenheit darstellen. Gibt es da Unterschiede zwischen Boutique- und Großkanzlei?

Wir befassen uns als Kanzlei natürlich intensiv mit diesen technischen Fragen, aber die eigentliche Entwicklungsarbeit machen wir nicht selbst. Das machen dann Partner, mit denen wir zusammenarbeiten. Und mit denen gibt es dann einen gegenseitigen Austausch.


Sie hatten gerade schon erläutert, dass Hausfeld stark auf Gerichts- und Schiedsverfahren spezialisiert ist. Und nun findet sich in der Forbes ein Zitat ("Litigation is protracted, arcane, opaque, inefficient, costly, and attorney-centric"), was das Ganze ein bisschen auf die Hörner nimmt. Und zwar heißt das frei übersetzt, Gerichtsprozesse seien langwierig, undurchsichtig, teuer und anwaltsfokussiert. Was würden Sie dazu sagen?

Wir führen in der Tat sehr große Prozesse und diese sehr großen Prozesse sind häufig langwierig. Das ist einfach so. Ansonsten glaube ich aber, dass wir für unsere Mandanten regelmäßig Lösungen entwickeln, die solche Prozesse wirtschaftlich machen. Insofern sind wir, glaube ich, einfach ein attraktives Angebot,, weil wir eine echte Boutique sind, da wir hochspezialisiert arbeiten. Alles andere, was da auch an Polemik durchklingt, ist die Ranküne von anderen Kanzleien, die es nicht so gerne sehen, wenn ein Newcomer auf den Markt kommt und da bestimmte Bereiche besetzt, die diese Kanzleien vielleicht auch gerne selbst besetzen wollten. Es gibt in Deutschland – anders als in Amerika – nicht diese strenge Unterscheidung zwischen Plaintiff- und Defence-Firms. In Amerika ist man automatisch einer Gruppe zugeordnet. In Deutschland ist das keineswegs so. Jede Großkanzlei ist natürlich auch auf Klägerseite unterwegs und keineswegs nur auf Beklagtenseite. Und das gilt letztlich auch für uns.


Man liest immer wieder, dass es vor einigen Jahren einfach noch nicht schicklich war, die Prozesse vor Gericht auszufechten und sich deswegen der Prozessanwalt erst in der Großkanzlei etabilieren musste. Sie haben auch in Ihrer Großkanzlei-Zeit immer Litigation und Arbitration gemacht und sind somit stark spezialisiert auf diesem Gebiet. Können Sie bestätigen, dass es gedauert hat, bis der Prozessanwalt ein besseres Standing in seiner Kanzlei hatte?

Ja, das war eine Entwicklung, die – glaube ich – alle großen Kanzleien in Deutschland durchgemacht haben. Bis vor 15 oder 20 Jahren waren eigentlich die meisten Kanzleien eher nach klassischen Rechtsgebieten aufgestellt, also Kartellrecht, Gesellschaftsrecht, usw., während natürlich der Bereich Prozessführung ein Querschnittsgebiet ist. Insbesondere gibt es da Berührungen mit dem Gesellschaftsrecht, mit dem Handelsrecht, mit dem allgemeinen Zivilrecht, mit dem Produkthaftungsrecht und so weiter. In vielen Kanzleien hat sich im Grunde ein eigener Bereich, wie auch immer man ihn nennen will – Prozessführung oder Dispute Resolution – erst nach der Jahrtausendwende langsam herausgebildet. Das hing auch damit zusammen, dass immer mehr angloamerikanische Kanzleien nach Deutschland gekommen sind, die diese Bereiche traditionell schon hatten. In Deutschland ist es so, dass im Grunde jeder Jurist gelernt hat, Prozesse zu führen. Spätestens im Referendariat, sodass theoretisch auch jeder Jurist das kann. Das ist in England anders. Da lernt man das nicht, wenn man nicht in dem Bereich tätig ist. In England gibt es immer noch die Barristers, die ihrerseits darauf spezialisiert sind. Mittlerweile hat jede Großkanzlei eine eigene Dispute-Resolution-Praxis und diese Einheiten sind meistens auch außerordentlich erfolgreich. Man nehme beispielweise das Thema Kartellrecht: Die Streitigkeiten, die es jetzt bezüglich des Kartellschadensersatzrechts gibt, welches ein relativ neues Rechtsgebiet darstellt, sind gigantisch groß und beschäftigen also viele, viele, viele Anwälte in großen Kanzleien. Und häufig können die Kartellrechtspraxen das mit ihrer eigenen Manpower gar nicht wirklich bewältigen.


Ich würde in diesem Verfahren gerne nochmal noch einen Schritt zurückgehen und auf die Mandantenakquise eingehen, auch mit Blick auf das Geschäftsmodell von myRight. Wie funktioniert heutzutage die Mandatsakquise? Das Klinkenputzen des klassischen Feld-, Wald- und Wiesenanwalts ist wahrscheinlich vorbei, oder?

Nicht unbedingt. Es ist sehr unterschiedlich. Wir bekommen viele Refferals. Wir kriegen Mandate deshalb, weil wir keinen Konflikt haben. Das ist natürlich bei Großkanzleien immer ein großes Thema. Großkanzleien klassischen Zuschnitts können häufig in Prozessmandaten gar nicht tätig werden, weil drei Türen weiter der Kollege das Unternehmen auf der anderen Seite arbeitsrechtlich berät oder fünf Türen weiter der Kollege steuerrechtlich. Das ist auch mit ein Grund, warum gelegentlich erfahrene Dispute Resolution-Partner Großkanzleien verlassen, weil sie einfach ihre Möglichkeiten, ihr Geschäft zu entwickeln, zu sehr eingeschränkt sehen. Ansonsten gibt es nach wie vor ganz unterschiedliche Wege, wie man zu Mandaten kommt. Einer davon sind aber tatsächlich Pitches, das heißt man liefert sich mit anderen Kanzleien einen richtigen Wettbewerb über Klingenputzen, indem man Anrufe macht und so versucht, mit Leuten in Kontakt zu kommen. Manchmal sind auch Verbände Multiplikatoren. Den einen Königsweg zu einem Mandat im Bereich der Prozessführung gibt es bis heute nicht. Da hat sich in den letzten 20 Jahren glaube ich nichts geändert.


Erwarten Sie denn eine Änderung?

Es wird immer mehr mit technischen Mitteln gearbeitet werden. Die Kanzleien sind heute alle sehr aktiv in den sozialen Netzwerken und versuchen sich zu präsentieren. Die Nutzung moderner Technik auch zur Mandantenakquise oder zur Pflege der eigenen Marke nimmt immer weiter zu. Sie werden über LinkedIn oder über Twitter nicht regelmäßig neue Mandate kriegen. Aber Sie nutzen natürlich diese Kanäle, um Ihre Marke zu pflegen und sich bekannt zu machen oder bekannt zu halten.


Dann ist die These, dass die IT-Abteilungen mittlerweile die Mandantenakquise anstelle der alteingesessenen Partner übernehmen, wohl verfehlt?

Ja, das ist deutlich übertrieben.


Dann gehen wir jetzt wieder einen Schritt weiter und kommen auf die Prozessführung und die interne Vorbereitung für diese Massenverfahren zu sprechen. Wie funktionierte die Discovery-Phase damals und wie funktioniert sie heute? Was hat sich da gewandelt in den letzten Jahren?

Das ist eine Arbeit, die bei aller Unterstützung durch IT-Prozesse und durch intelligente Computerprogramme nach wie vor sehr anwaltslastig ist. Das heißt, Sie müssen als Anwalt letztlich immer noch einen Großteil der Arbeit selbst machen oder zumindest ein Team von Projektjuristen überwachen, die bestimmte Review-Prozesse durchführen. Es ist keineswegs soweit, dass alles technisch erledigt werden kann. Es geht häufig auch darum, dass enorme Mengen an Dokumenten ausgewertet werden müssen. Das ist heute teilweise, aber eben nur teilweise, durch Technik möglich, weil die Unterlagen und Dokumente, die sie von Mandanten zugeschickt bekommen, unterschiedlich sind, sowohl was den Inhalt angeht als auch, was die Druckqualität oder ähnliche Dinge betrifft. Unser VW-Mandat ist da ein schönes Beispiel. Da haben haben alle Beteiligten mit Projektjuristen gearbeitet. Wir haben das getan. Auch die Kanzleien, die VW vertreten, haben in massivem Umfang Projektjuristen beauftragt. Das sind zum Teil Leute, die das erste Staatsexamen haben und auf das Referendariat warten. Zu einem anderen Teil sind es Leute, die beide Staatsexamina haben und vielleicht auf diese Weise hoffen, einen Fuß in die Kanzlei zu bekommen. Oder es sind Leute, die nach ihrer Lebensplanung einfach noch keinen "normalen Job" annehmen, sondern erstmal als Projektjurist arbeiten wollen. Vielleicht, weil sie nur Teilzeit arbeiten wollen, weil sie nebenher eine Doktorarbeit schreiben, weil sie einfach nicht so viel arbeiten wollen oder was auch immer.


Von was für einer Manpower sprechen wir da? Wie viele Leute müssen da arbeiten, um diese ganzen Datenmengen aufzuarbeiten? Die Klageschrift im LKW-Kartell hatte zum Beispiel 18.000 Seiten. Da kann ich mir kaum vorstellen, was das für Aktenberge sind.

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Peak-Zeiten, wo es relativ viele Leute sind. Aber manchmal dauert so ein Peak auch nur zwei Monate und dann geht das entsprechend wieder runter. Da gibt es keine Faustformel, sondern das regelt sich einfach danach, was für Arbeit anfällt.


Was muss sich denn ändern, damit die Discovery-Phase weniger zeit- und kostenintensiv wird?

Wenn die Technik weiter vorangescheritten ist, wird es sicherlich möglich sein, da noch mehr Arbeit durch IT zu erledigen. Aber damit darf man jetzt nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren rechnen, sondern eher mittel- bis langfristig. Trotzdem wird es immer so sein – und so handhaben wir das auch –, dass die Verantwortung für den Schriftsatz natürlich nicht bei der IT, sondern bei den Anwälten liegt. Das heißt, die Anwälte gucken sich das an, bevor Schriftsätze eingereicht werden. Die Anwälte müssen den Schriftsatz dann ja auch unterschreiben. Insofern glaube ich nicht, dass irgendwann der Punkt kommen wird, zu dem quasi auf Knopfdruck alles ganz von alleine funktioniert, sondern es wird immer ein erheblicher Teil anwaltliche Arbeit bleiben.


Wir waren gerade schon bei diesen großen Mengen an Daten. In ihrem Team streiten für myRight fünf Anwälte. Für VW sind es mehr als viermal so viele Anwälte. Wie gestaltet sich denn in so einem Fall die Verfahrens- und Prozessführung? Merkt man es, dass man zahlenmäßig unterlegen ist?

Ich glaube, wir machen unseren Job mit den Leuten, die wir haben, ziemlich gut. Aber wir merken natürlich schon, dass die Anwälte, denen wir auf der Gegenseite begegnen, noch auf ganz andere Ressourcen zugreifen können. Aber das begegnet einem nicht nur in diesem Verfahren, sondern kann einem auch in anderen Verfahren begegnen. Und der Umstand, dass besonders viele Anwälte auf der Gegenseite tätig sind, bedeutet nicht immer, dass die Qualität deswegen besser ist. Außerdem haben wir es insofern einfacher, als wir eine klare Zielrichtung haben. Wir vertreten myRight, die wiederum für tausende VW Kunden tätig sind. Die Anwälte, die VW vertreten, müssen auch noch ganz andere Dinge berücksichtigen: laufende Strafverfahren, die globale Situation. Es wird ja nicht nur in Deutschland gegen VW geklagt. Da gibt es also Work Streams, die wir gar nicht haben und auch nicht brauchen, die VW aber haben muss, um dieses ganze Thema global im Griff zu behalten. Daher finde ich die unterschiedliche Größe der Teams nicht so überraschend.


Die Zeiten, in denen der Anwalt in seinem dunklen Büro alleine am Schreibtisch sitzt, händisch die Klageschrift aufsetzt und sie dann weiterreicht, damit sie per Schreibmaschine abgetippt und an einen Amtsrichter geschickt werden kann, sind wahrscheinlich auch vorbei. Aber inwiefern hat sich das verändert? Was für Tools werden da genutzt? Wie funktionieren sie und können sie den wachsenden Arbeitsaufwand in Grenzen halten?

Als ich vor 25 Jahren angefangen habe, habe ich viel diktiert. Das mache ich heute immer noch, aber nicht mehr in ein Diktiergerät, sondern in eine Software, die dann den Text direkt schreibt. Das ist natürlich ein großer Unterschied. Das heißt, insbesondere in den Sekretariaten hat sich die Arbeit stark verändert. Das klassische Bänderschreiben gibt es nur noch sehr selten. Es hat sich auch insofern verändert, als dass man sehr viel Zeit vor dem Computer verbringt, dass man seine E-Mails häufig selbst schreibt und nicht mehr Briefe diktiert, die man sich früher zugeschickt hat. Auch die Geschwindigkeit hat sich verändert. Da macht vor allem das beA (Besonderes elektronisches Anwaltspostfach) nochmal einen Unterschied. Wir nutzen das beA sehr viel, weil es eine starke Erleichterung ist, die Dokumente nicht per Papier einreichen zu müssen. Diese Entwicklung wird sich noch weiter fortsetzen.


Hat Hausfeld für diese Arbeitserleichterungen eigene Programme und Tools oder gibt es da die Platzhirsche am Legal Tech-Markt, auf die zurückgegriffen wird?

Es gibt nicht das eine Programm. Es gibt unterschiedliche Programme, weil die Projekte auch unterschiedliche Strukturen und Anforderungen haben. Auf diese Strukturen und Anforderungen muss die Technik, mit der man arbeitet, zugeschnitten sein. Wir haben deshalb verschiedene IT-Lösungen für verschiedene Projekte.


Blicken wir noch einmal auf Hausfeld und die internationale Zusammenarbeit. Sie haben gerade schon gesagt, dass man das Geschäftsmodell von Hausfeld keineswegs damit verwechseln darf, dass man versucht, die Class Action der USA im deutschen Rechtssystem zu integrieren. Dennoch: Was kann sich der deutsche Jurist noch von den Amerikanern abschauen?

Das ist eine gute Frage. Man könnte die Frage natürlich ganz provokativ andersherum stellen: Was kann sich Amerika vom kontinentaleuropäischen Rechtssystem abschauen? Da würde mir spontan einiges einfallen. Dann könnte man vielleicht Folgendes sagen:

In Amerika ist es seit langer Zeit möglich, dass auch relativ kleine Ansprüche, deren Durchsetzung unwirtschaftlich ist, über die Class Action verfolgt werden können. Das ist die große Stärke der Class Actions. Da stehen Europa und Deutschland noch am Anfang. Es gibt jetzt eine neue Gesetzgebung auf europäischer Ebene, die das ändern soll. Aber in Deutschland besteht in der Tendenz immer noch ein wirtschaftlicher Anreiz für Unternehmen, Rechtsverstöße zu begehen, die so klein sind, dass es für Verbraucher oder auch kleinere Unternehmen nicht wirtschaftlich ist, solche Dinge zu verfolgen, weil es bisher an rechtlichen Möglichkeiten fehlt, das kostengünstig durchzusetzen. Da ändert sich jetzt gerade einiges. Das ist sicherlich auch durch den VW-Skandal angestoßen worden, durch entsprechende Richtlinien auf europäischer Ebene und durch die Musterfeststellungsklage, die gegen VW geführt und die dann verglichen worden ist. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Also kann Europa von Amerika lernen, dass Unternehmen, die das Recht verletzen, dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Sonst besteht kein Anreiz, diese Rechtsverletzung zu unterlassen und sich "compliant" zu verhalten. Umgekehrt glaube ich, dass unser Rechtssystem auch viele Vorteile hat. Ich glaube nicht, dass das Jury-System in Amerika dem deutschen System überlegen ist, weil es stellenweise zum Missbrauch einlädt und nicht zu besseren Ergebnissen führt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Discovery, wie wir sie in Amerika haben, wirklich die bessere Lösung ist, denn die amerikanische Discovery ist mit enormen Kosten verbunden und macht daher das ganze Verfahren enorm teuer. Aber das ist ein vielschichtiges Thema.


Um zu dem ersten Punkt, den Sie ansprachen, zurückzukommen: Das Inkasso-Modell, das Sie aktuell verfolgen, setzt genau da an, dass eben auch der kleine Mann versuchen kann, seine Ansprüche gegen VW geltend zu machen. Wie geht das denn jetzt weiter?

Es gibt in der Tat einen großen Streit um dieses Abtretungsmodell, das wir auch im Rahmen des VW-Verfahrens praktizieren. Und irgendwann wird dieser Streit durch die Gerichte entschieden werden. So einfach ist das.


Die Entscheidungen, die dazu gefallen sind, darf man dann wahrscheinlich nicht überbewerten, als dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Ja, absolut. Das sind bisher ausschließlich Entscheidungen von Langerichten. Es hat vor anderthalb Jahren eine grundlegende Entscheidung des BGH gegeben – die Lex Fox-Entscheidung – in der zwei Drittel der Angriffe gegen das Abtretungsmodell schon entschieden worden sind und zwar zugunsten des Abtretungsmodells. Und das letzte Drittel der Angriffe gegen das Abtretungsmodell resultiert aus Besonderheiten, die im Lex Fox-Fall keine Rolle spielten. Diese Angriffe beschäftigen jetzt schon die unteren Gerichte und werden irgendwann auch die oberen Gerichte beschäftigen.


Ich habe das Gefühl, das Lex Fox-Urteil wird gerade auf Ebene der Landgericht noch sehr unterschiedlich gelesen. Beispielsweise gibt es ein Urteil des Landgerichts Hannover zum Zuckerkartell. Das spricht sich stark gegen CDC und das Abtretungmodell aus und begründet das an vielen Stellen gerade mit der Lex Fox-Entscheidung.

Richtig, da gibt es unterschiedliche Lesarten. Das Landgericht Hannover meint im Kern, dass der BGH in seiner Lex Fox-Entscheidung von einem Idealbild des Inkasso-Unternehmens ausgeht und dass sich die Zulässigkeit konkreter Modelle danach richtet, wie weit das konkrete Modell von diesem Idealbild abweicht. Das ist aus meiner Sicht eine ganz falsche Lesart dieses Urteils, aber auch diese Dinge werden vom BGH entschieden werden müssen. Es gibt in der Tat eine Reihe von erstinstanzlichen Gerichten, die jetzt gegen das Abtretungsmodell entschieden haben, aber keinen der Gründe, die ich da gelesen habe, finde ich wirklich überzeugend. Deswegen sind wir sehr zuversichtlich, dass wir uns im Laufe des Instanzenzugs mit unserer Meinung durchsetzen werden.


Glauben Sie denn, dass das Abtretungsmodell eine vorübergehende oder eine permanente Lösung ist? Gerade im Hinblick auf die aktuelle Gesetzgebung und die ausstehende Konkretisierung der rechtlichen Fragen durch den BGH.

Es gibt ja schon einen Gesetzesentwurf zur Reform des RDG. Und dieser Gesetzesentwurf läuft auf die Klarstellung hinaus, dass das Abtretungsmodell möglich ist. Der Gesetzgeber hat sich da ganz klar positioniert. Wenn der Entwurf, so wie er im Moment vorliegt, umgesetzt wird, dann werden zwar in Zukunft Legal Tech-Unternehmen, wenn sie für Verbraucher tätig werden, relativ umfangreiche Aufklärungs- und Hinweispflichten treffen. Aber das Geschäftsmodell als solches, das Abtretungsmodell, wird im Gesetzesentwurf nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil kann man aus allen Regelungen herauslesen, dass der Gesetzgeber dieses Modell billigt. Das finden wir natürlich sehr positiv. Ob sich daneben noch weitere Modelle etablieren, die es für Verbraucher leichter machen, Ansprüche durchzusetzen, wird man sehen. Es gibt im Moment ja schon – wie gesagt – die Musterfeststellungsklage, die allerdings nur auf eine Feststellung gerichtet ist. Auch das wird sich jetzt ändern müssen, weil auf europäischer Ebene gerade eine Richtlinie verabschiedet worden ist, wonach im Rahmen solcher Klagen auch Schadensersatzansprüche durchgesetzt werden können. Für Verbraucher ist es natürlich immer gut, wenn es mehrere Angebote gibt, wie man seine Rechte verfolgen kann. Insofern spricht gar nichts dagegen, dass da möglicherweise mehrere Angebote auf dem Markt sind, und vielleicht eines in Form einer Musterfeststellungsklage oder einer Europäischen Verbandsklage. Das Abtretungsmodell ist aber auch für Verbraucher attraktiv, weil sie keine Kosten und kein Kostenrisiko tragen, sondern nur im Erfolgsfall einen Teil ihres Schadensersatzes abgeben müssen.


Wenn das Abtretungsmodell von Gesetzgeber und Rechtsprechung gebilligt wird: Glauben Sie, dass andere Kanzleien oder Boutiquen dieses Modell auch für sich erschließen werden?

Daran habe ich keine Zweifel. Ich meine, wir sind nicht die Erfinder des Abtretungsmodells. Das hat es schon Jahre gegeben, bevor Hausfeld überhaupt auf den Markt kam. CDC zum Beispiel gibt es schon viel länger und die haben schon lange vor Hausfeld mit Abtretungsmodellen kartellrechtliche Ansprüche durchgesetzt. Das Abtretungsmodell ist also keineswegs ein Gebiet, in dem wir exklusiv tätig sind. Aber wenn der Gesetzgeber und die Gerichte das letztlich billigen sollten, dann wird das natürlich in Zukunft eine noch größere Rolle spielen.


Vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten und das interessante Gespräch!

Vielen Dank!


Interviewer

Dieses Interview wurde von Tim Becker geführt. Tim studiert im vierten Semester Rechtswissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Dort arbeitet er außerdem an dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Herrn Prof. Dr. Hans Michael Heinig.