"Justiz und Bevölkerung driften immer weiter auseinander"

 

Im Vorfeld der Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag haben wir mit Konstantin Kuhle einen Blick auf die Herausforderungen der Digitalisierung für die Politik geworfen. Dabei sprechen wir über Legal Tech und deren Chancen für die Zukunft, sowie neue Herausforderungen für die Sicherheitspolitik durch die Digitalisierung. Außerdem gibt Konstantin Kuhle einen Einblick in die digitale Arbeitswelt im deutschen Bundestag und der FDP-Fraktion und wo es dabei im Parlament noch hakt.  - Julius Scherr


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Konstantin Kuhle ist FDP-Politiker und Rechtsanwalt. Er war von 2014 bis 2018 Bundesvorsitzender der FDP Jugendorganisation 'Junge Liberale'. Seit 2015 ist Konstantin Kuhle im FDP-Bundesvorstand, zudem ist er seit 2018 Generalsekretär der FDP Niedersachsen. Seit 2017 ist Konstantin Kuhle Mitglied des Deutschen Bundestages und dort innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Im Rahmen der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag hat er erneut den Einzug ins Parlament geschafft. Dort ist er Mitlied der FDP-Fraktion. Zudem ist Konstantin Kuhle für die Kanzlei Herfurth & Partner in Hannover tätig.


Was ist Ihre erste Assoziation mit Legal Tech?

Ich habe eigentlich zwei. Meine allererste Assoziation ist Flightright, weil ich von denen schon mehrfach erfolgreich Geld zurückbekommen habe. Während meines Studiums gab es Phasen, in denen ich stark aufs Geld achten musste. Dann ist mir eingefallen, dass ich ein Jahr zuvor einen Flug hatte, der ausgefallen ist. Und dann habe ich irgendwo, ich glaube in der Zeitung, von Flightright gelesen. Theoretisch ist man als Jurist natürlich in der Lage, das selbst zu machen, aber man hat eigentlich keine Lust dazu. Und es ist natürlich ein sehr hoher Aufwand, sich selbst hinzusetzen und seine Ansprüche einzufordern. Ich war begeistert davon, wie einfach und schnell man bei Flightright sein Geld zurückbekommt. Deswegen ist das meine erste Assoziation.

Die zweite Assoziation, wenn ich an Legal Tech denke, ist eine gewisse Frustration, die mich während meiner gesamten Ausbildung und auch jetzt während meiner parlamentarischen Tätigkeit begleitet hat. Eine Frustration darüber, wie klein die Rolle der quantitativen Rechtsforschung in Deutschland ist, wie wenig Daten darüber erhoben werden, wie Gerichte eigentlich entscheiden und nach welchen Kriterien sie entscheiden. Allein das Monopol von Anbietern wie Beck oder Juris, das verhindert, dass man bei der Aufarbeitung und Aufbereitung von Gerichtsentscheidungen vorankommt, finde ich sehr deprimierend. Deswegen begrüße ich jede Initiative, die da ein bisschen Dampf macht.


Wie sind Sie bisher in Ihrem Berufsalltag als Jurist bzw. Bundestagsabgeordneter mit Legal Tech in Kontakt gekommen?

Im Bundestag gibt es eine gewisse Trennung zwischen den Innenpolitikern und den Rechtspolitikern, obwohl diese beiden Politikbereiche natürlich miteinander verwandt sind. Die Rechtspolitik ist typischerweise die parlamentarische Begleitung der Tätigkeit des Justizministeriums und die Innenpolitik begleitet typischerweise die parlamentarische Arbeit des Innenministeriums. Somit ist für alles, was mit Rechtsdienstleistungen, Berufsrecht und so weiter zu tun hat – also den für Legal Tech relevanten Bereichen des Rechts – der Rechtsausschuss zuständig. Deswegen habe ich selbst als innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion keinen Arbeitsschwerpunkt im Bereich Legal Tech. Aber wenn wir uns auf unsere Sitzungswoche vorbereiten und unsere Initiativen miteinander abstimmen, gibt es einen sehr engen Austausch zwischen Rechts- und Innenpolitikern. Da bekomme ich natürlich mit, welche Vorschläge diskutiert werden. Ich habe darüber hinaus auch Freunde und Bekannte, die sich in diesem Bereich tummeln, sodass mir das alles erstmal sympathisch ist. Ich würde mir wünschen, dass wir auch in der Innenpolitik, beispielsweise im Verwaltungsverfahrens und Verwaltungsprozessrecht über die Chancen von Legal Tech diskutieren.


Der Begriff Digitalisierung taucht ja ständig in der öffentlichen Debatte auf. Gerade in den letzten Monaten wurde auch sehr viel über die Gesundheitsämter und die Kontaktverfolgung per Fax geschimpft. Aber was fällt denn für Sie unter den Begriff "Digitalisierung"?

Darunter stellen sich die Menschen in Deutschland immer den Netzausbau vor. Das ist damit aber gar nicht gemeint. Digitalisierung ist auch nicht, dass analoge Formate über das Internet stattfinden. Eine gewöhnliche Uni-Vorlesung, die über Zoom übertragen wird, ist keine Digitalisierung, sondern eine analoge Vorlesung, die über Zoom übertragen wird. Eine E-Akte, die übers Internet verschickt und dann ausgedruckt wird, ist keine Digitalisierung, sondern einfach eine E-Akte, die digital verschickt wird. Digitalisierung innerhalb der öffentlichen Verwaltung, im Bereich der Justiz, in der Bildung, innerhalb staatlicher Strukturen bedeutet, einen tatsächlichen Mehrwert durch digitale Lösungen zu erreichen, bei denen der Prozess neu gedacht und digital aufgesetzt wird, statt einen analogen Prozess zu digitalisieren.


Wie steht denn Deutschland Ihrer Meinung nach in der Digitalisierung da?

Insgesamt sehr schlecht.


Gibt's denn etwas, wo wir gut dastehen?

Ich glaube, unsere analogen Lösungen sind sehr gut, damit brauchen wir uns auch nicht zu verstecken. Manchmal bekommt man als Politiker ja durchaus Applaus, wenn man auf die Bürokratie schimpft, aber man muss schon anerkennen, dass unsere Verwaltung – trotz der insbesondere während der Pandemie offenkundigen Schwierigkeiten – insgesamt relativ leistungsfähig ist. Das gilt zwar nicht in jeder Hinsicht, in der Organisation des Impfens gibt es beispielsweise Probleme, aber wir haben insgesamt schon einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst mit kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das Problem ist, dass die dortigen Beharrungskräfte sehr stark sind. Wenn man sich wirklich einmal Zeit nehmen würde und den Ehrgeiz hätte, im Bereich der öffentlichen Verwaltung bestimmte Prozesse digital neu aufzusetzen, dann könnten wir auch in puncto Digitalisierung viel besser sein. Es ist ein hohes Potenzial vorhanden, aber wir schöpfen es nicht aus.


Jetzt zu Ihrer Arbeit im Parlament. Hat sich die Arbeit durch die Digitalisierung im Parlament verändert?

Das kann ich nicht so genau beurteilen, weil ich selbst erst seit vier Jahren im Bundestag bin und nicht sagen kann, wie es vorher war. Aber uns sind natürlich bestimmte Dinge aufgefallen, die wirklich sehr, sehr schlimm sind. Dazu gehört beispielsweise der Gang einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung. Die Anfrage wird von Stelle zu Stelle weiter gefaxt. Es gibt zwischen Parlament und Regierung keine vernünftigen digitalen Schnittstellen, die den ganzen Datenverkehr vereinfachen. Auch verfügen die Ausschüsse nicht über eine digitale Dokumentenverwaltung, sodass man täglich Dutzende E-Mails bekommt, anstatt sich auf einer digitalen Oberfläche auf die Sitzung vorbereiten zu können. Die FDP-Fraktion hat das in ihrem neuen Intranet so gemacht. In der Privatwirtschaft ist das Standard. In Politik und Verwaltung ist es eine massive Innovation.


Die Freie Demokratische Partei (Kurzbezeichnung: FDP, von 1968 bis 2001 F.D.P.; Eigenbezeichnung: Freie Demokraten, bis 2015 Die Liberalen) ist eine liberale Partei in Deutschland, die im politischen Spektrum im Bereich Mitte bis Mitte-rechts eingeordnet wird. Der inhaltliche Grundgedanke der FDP ist der Liberalismus. Ihr fundamentales Ideal besteht somit in der Freiheit des Einzelnen, insbesondere vor staatlicher Gewalt.


Liegt es an mangelnder Bereitschaft der Bundestagsverwaltung das umzusetzen oder wieso geht da nichts?

Ich habe während meiner Zeit im Bundestag großartige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung kennen gelernt. Aber oftmals haben einzelne Arbeitsbereiche ein großes Selbstbewusstsein und wollen sich nur ungern reinreden lassen.


Ich weiß nicht genau, wie viel Einblick Sie in andere Parteien haben, aber was hat denn die FDP-Fraktion im Vergleich zu den anderen Parteien im Parlament im Bereich der Digitalisierung voraus? Gerade wenn es jetzt wieder um den Wahlkampf geht, verkauft sich die FDP als Partei der Digitalisierung.

Wir sind zum Beispiel die einzige Fraktion, die keine Druckerei hat. Warum? Es liegt daran, dass wir 2013 aus dem Bundestag geflogen sind und es nach 2017 einen kompletten Reset in der Fraktionsorganisation gab. Die Fraktion ist einmal komplett gelöscht worden. Ich gehörte zwar damals nicht der Bundestagsfraktion an. Aber ich bin mir sicher, dass es damals auch gewisse Abläufe gab, die altbacken gewesen sind. Dadurch, dass wir 2013 ausgeschieden sind, hatten wir die Chance, die komplette Fraktionsorganisation 2017 neu aufzusetzen und eine digitale Oberfläche zu bauen, die von Tag 1 an im Einsatz ist und seitdem jede Woche verbessert wird.


Der nächste Themenblock behandelt die aktuelle Gesetzesänderung, in der es um mehr Rechte für Legal Tech-Anbieter geht...

Zu dem Thema würde ich zunächst gerne etwas Allgemeines vorausschicken. Ich habe das Gefühl, dass die Fülle an Verfahren in der Strafjustiz sowie in der Ziviljustiz, die mangelhafte personelle Ausstattung der Gerichte und die Dauer der Verfahren dazu beitragen, dass Justiz und Bevölkerung immer weiter auseinanderdriften. Die Zahl der wahrgenommenen Streitigkeiten geht hoch und gleichzeitig sinkt die Zahl der tatsächlichen Zivilprozesse. Das hängt nach meiner Wahrnehmung damit zusammen, dass die Hürde größer wird, um an Zivilprozessen zu partizipieren. Da braucht es, speziell was kleine Forderungen angeht, ernsthafte digitale Prozesse bei Gericht, auch in Massenverfahren. Ich glaube, dass man darüber den Rechtsstaat auch ein Stück weit wieder besser bei Bürgerinnen und Bürgern verankern kann. Das betrifft auch die Verfolgung von Hasskriminalität im Internet, auch in Verbindung mit extremistischen und terroristischen Bedrohungen. Wenn man sich alleine anschaut, wie viele Frauen pro Tag im Internet sexistisch beleidigt werden und eine Strafanzeige erstatten, deren Bearbeitung dann meist mit einer Verfahrenseinstellung endet, wird deutlich, dass wir einen rechtlichen Graubereich tolerieren, in dem de facto keine Strafverfolgung stattfindet. Und das liegt daran, dass das Verfahren, mit dem wir diese Straftaten verfolgen, dem gleichen Ablauf folgt wie schon im 19. Jahrhundert. Wir können uns jetzt lange darüber unterhalten, nach welchen materiellen oder prozessualen Regeln diese Verfahren organisiert sein müssen. Damit muss jetzt begonnen werden.


Legal Tech tauchte im letzten Koalitionsvertrag (S. 124) der Bundesregierung auf: "Wir erleichtern Verbraucherinnen und Verbrauchern die Rechtsdurchsetzung durch Digitalisierung, insbesondere bei smart contracts. Deshalb werden wir die Entwicklung der automatischen Vertragsentschädigung fördern und rechtssicher gestalten."

Kürzlich hat der Bundestag das sog. „Legal Tech Gesetz“ verabschiedet, das sich auf diese Passage des Koalitionsvertrages bezieht. Mit dem Gesetz wird für Legal-Tech-Inkassogesellschaften die Prozessfinanzierung ausdrücklich erlaubt. Außerdem sollen auch Anwälte Erfolgshonorare bis zu einer Grenze von 2.000 € Streitwert vereinbaren dürfen. Zudem sollen Legal-Tech-Inkassogesellschaften verpflichtet werden, sich im Dienst des Verbraucherschutzes registrieren zulassen.

Wie sehen Sie den Gesetzentwurf? Was sehen Sie kritisch und was positiv?

Es handelt sich um das Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt (BT-Drucksache 19/27673), das der Bundestag am 10. Juni beschlossen hat. Wir haben diesem Gesetz als Fraktion im Bundestag zugestimmt, allerdings auch mehrere Änderungen beantragt, zu denen sich die anderen Fraktionen leider nicht durchringen konnten. Wir befürchten, dass insbesondere die Lizenzierung der Inkassodienstleister nach dem Gesetz die Behörden überfordern könnte und dass durch unterschiedliche Rechtsanwendung in den Ländern ein Flickenteppich an Regelungen entsteht, der Unternehmen in bestimmten Ländern einen Standortvorteil einräumt und so den Wettbewerb verzerrt. Wir hätten deshalb eine Registrierung beim Bundesamt für Justiz begrüßt. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass Unternehmen, die bereits am Markt tätig sind, keine neue Registrierung brauchen.


Was würde die FDP dahingehend anders machen, wenn sie ab der nächsten Legislaturperiode in der Regierung sitzen würde?

Wir haben selbst einen umfangreichen Gesetzentwurf zu Legal Tech in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das Rechtsdienstleistungsgesetz, das die Tätigkeit von Anwälten regelt, ist derzeit nicht auf Rechtsdienstleistungen im Bereich Legal Tech und digitale Angebote ausgelegt. Um dem zu entgehen, flüchten sich Unternehmen in eine Inkassolizenz. Das ist bei vielen Geschäftsmodellen allerdings nicht sinnvoll. Gleichzeitig ist nicht sichergestellt, dass die Unternehmen in ihrem Rechtsgebiet auch besondere Sachkunde vorweisen, wie man sie bei einem Rechtsanwalt erwarten könnte. Wir streben deshalb eine Umgestaltung des Rechtsdienstleistungsgesetzes an, um Legal Tech-Unternehmen eine gesicherte gesetzliche Grundlage für ihre Rechtsdienstleistungen zu bieten, gleichzeitig aber auch eine Qualitätskontrolle für den Verbraucher zu erreichen.


Die FDP will die automatisierte Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen im Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) erlauben, also den Rechtsmarkt liberalisieren. Dagegen werden häufig Bedenken geäußert. Ich greife einmal zwei Zitate aus kritischen Stellungnahmen heraus: "Die Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege wird durch Legal Tech Unternehmen in der Hinsicht gefährdet, dass Legal Tech-Anbieter viele einfache Fälle abgreifen und für Anwälte nur sehr aufwendige und komplizierte Mandate übrigbleiben und Anwälte so dauerhaft signifikant weniger Einnahmen hätten." – sinngem. Prof. Dr. Christian Wolf

"Die Rechtsdurchsetzung wird für Verbraucher tatsächlich teurer. Denn bei Legal Tech-Inkasso werden üblicherweise nur Forderungen übernommen, für die die Erfolgsaus-sicht hoch ist und für die bei anwaltlicher Vertretung der Gläubiger zusätzlich zu 100% seiner Forderung eben die RVG-Gebühr erstattet erhält." – BRAK (Zitat auf Seite 7, Punkt 1.2)

Wie sehen Sie diese Problematik und welche Lösungen kann es dagegen geben?

Der Rechtsdienstleistungsmarkt befindet sich derzeit bereits im Umbruch. Sich gegen diese Entwicklung zu stemmen, wird weder den Verbraucherinnen und Verbrauchern noch den Unternehmerinnen und Unternehmern helfen. Wir gehen davon aus, dass eine Ausweitung der Legal Tech-Angebote vor allem bei einfach gelagerten Bagatellfällen den Zugang zu Rechtsschutz erheblich erleichtern und auch vergünstigen wird. Das sind Fälle, in denen die Verbraucherinnen und Verbraucher auch bisher kaum zum Rechtsanwalt gehen. Gleichzeitig müssen sie nicht das Kostenrisiko tragen, was für viele Betroffene ein Hemmnis sein kann.


Andere Länder wie etwa die USA oder Großbritannien haben Legal Tech schon weitaus mehr in den Rechtsmarkt integriert. Aber auch beispielsweise in Portugal waren Videoverhandlungen in den vergangenen Monaten die Regel. Im Übrigen hat Portugal bereits in den siebziger Jahren mit dem Aufbau von Entscheidungsdatenbanken begonnen und kann heute auf diese Daten zurückgreifen und für Anwendungen künstlicher Intelligenz nutzen. Wieso tut sich Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern so schwer den Rechtsmarkt zu digitalisieren und liberalisieren?

Rechtsdienstleistung ist ein Markt, der aus gutem Grund durch das Jura-Studium und Staatsexamen zugangsbeschränkt ist. Dadurch und durch den großen Einfluss staatlicher Institutionen wie Gerichte und Staatsanwaltschaften ist der Rechtsmarkt in Deutschland nicht sehr flexibel. Das hat zum einen stabilisierende Wirkung, denn eine funktionierende Rechtsordnung ist zwingend auf einen zuverlässigen Rechtsmarkt angewiesen. Es führt aber auch dazu, dass Neuerungen nur schleppend aufgenommen werden. Es ist deshalb Aufgabe des Gesetzgebers, hier entschlossen einzugreifen und beispielsweise den Zugang zu gerichtlichen Entscheidungen, die ja ein öffentliches Gut sind, leichter zu machen. Andere Länder sind da teilweise weiter als wir. Ich bin aber zuversichtlich, dass auch die deutschen Institutionen digitaler werden können, wenn sie aus der Politik den Auftrag bekommen.


Noch einmal zu der Notwendigkeit moderner Gerichtsverfahren. Zur Kriminalstatistik des Jahres 2019 haben sie gesagt„[…] Insgesamt ist das Thema Digitalisierung an oberster Stelle. Radikalisierung findet im Internet statt und wir müssen uns […] die Frage stellen, was sind eigentlich die übergreifenden Radikalisierungstendenzen, die es in Deutschland gibt? Und da braucht es dringend ein Gesamtkonzept gegen digitale Radikalisierung. […]“

Das hatten Sie auch gerade schon angesprochen, dass mittlerweile sehr viel Kriminalität im Internet stattfindet, wo die Antworten auf diese Fragen noch nicht ganz ausgereift sind. Was wäre denn ein Gesamtkonzept gegen diese Radikalisierung im Internet?

Bei der Frage der Kriminalität geht es um schnelle digitale Verfahren. Wenn ich sage, es braucht ein Konzept, um Radikalisierung im Internet zu erkennen, dann meine ich damit eher die internationalen Tendenzen. Zunächst einmal ist nicht jeder Kriminelle radikal. Es gibt Alltagskriminalität im Internet. Beständig werden Menschen dort beleidigt und diese Beleidigungen erreichen irgendwann Dimensionen, bei denen man sich wehren will und dann erfährt, dass der Staat offensichtlich nicht in der Lage ist, die Gesetze im Internet durchzusetzen. Das ist etwas, was man angehen muss. Ein anderes Problem sind Extremisten, die international digital vernetzt sind, voneinander lernen und sich in Deutschland auch auf Vorbilder im Ausland beziehen. Ein ganz wichtiges Beispiel dafür ist die Tatsache, dass sich der Attentäter von Halle den Anschlag in Christchurch als Vorbild genommen hat. Der ist ungefähr anderthalb Jahre vor der Tat in Halle gewesen. Das Video, das er versucht hat, hochzuladen, nimmt ganz bewusst Bezug auf die Ereignisse in Christchurch. Wenn man sich anguckt, welche Symbole, welche sprachlichen Codes von den Leuten verwendet werden oder verwendet wurden, die im August 2020 auf der Treppe des Reichstags standen und das vergleicht mit denjenigen, die 2021 am sechsten Januar das Kapitol gestürmt haben, dann wird man leider einiges an Überschneidungen feststellen. Und ich befürchte, dass nicht alle Sicherheitsbehörden immer diesen Blick auf internationale Radikalisierungstendenzen haben.


Ist dann Ihrer Meinung nach eine europäische Lösung dafür sinnvoller, um grenzüberschreitende Aktivitäten besser zu erfassen?

Ja klar, da würde ich mir sowohl eine europäische Lösung wünschen als auch eine auf nationaler Ebene.


Die Europäische Union hat mit der Datenschutzgrundverordnung einen ersten weltweiten Standard gesetzt. Und generell wird in Europa und vor allem auch in Deutschland Datenschutz sehr, sehr großgeschrieben. Aber müssen wir in Deutschland in Zukunft auch Abstriche machen beim Thema Datenschutz, um international konkurrenzfähig zu bleiben?

Es wird oft behauptet, der Datenschutz sei schuld, wenn Digitalisierung nicht reibungslos funktioniert. In Deutschland wird der Datenschutz aber oft vorgeschoben, wenn man irgendein Projekt im Rahmen der Digitalisierung verhindern möchte. Wenn beispielsweise das Einwohnermeldeamt Daten an die BAföG-Stelle weiterleiten soll, wird der Staat die Weiterleitung aus Datenschutzgründen immer wieder ablehnen. Selbst wenn der Bürger dann seine Einwilligung erteilt, kann der Staat immer noch den Datenschutz als Argument dagegen verwenden. Datenschutz heißt, dass ich als Betroffener über meine eigenen Daten selbst entscheiden kann. Aber das heißt auch, dass man die Teilung von Daten und die Weitergabe von Daten in bestimmten Situationen optieren können muss. Das bedeutet, wenn ich einmal die Einwilligung zur Datenweitergabe erteilt habe, darf Datenschutz nicht mehr als Argument verwendet werden, um eine solche Weitergabe zu verhindern. Zweifellos erfordert die Digitalisierung neue Konzepte zum Schutz personenbezogener Daten und es ist nicht leicht, den Ausgleich zwischen Datenschutz und anderen Interessen immer perfekt zu treffen. Europa ist hier mit der DSGVO, die das erste wirklich umfassende Datenschutzpaket weltweit ist, ganz vorne mit dabei. Insofern ist Datenschutz durchaus ein europäisches Erfolgsprojekt. Nur wird er in Deutschland oft als Bollwerk gegen Veränderungen verstanden. So ist es eigentlich nicht gedacht.


Herr Kuhle, vielen Dank für das Gespräch!


Julius Scherr

Dieses Interview wurde von Julius Scherr geführt. Julius studiert im achten Semster Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Nebenbei arbeitet er bei Ernst and Young als Werkstudent im Bereich Steuerrecht.