“Wer Gesetze macht, muss sie den Menschen auch erklären.”

 

Wieso brauchen wir eine Digitalisierung der Justiz? Auf welche Art und Weise sucht der öffentliche Dienst nach Lösungen? Gibt es Unterschiede zwischen den Generationen innerhalb der Justiz? Mit der Richterin und zivilgesellschaftlichen Expertin für Digitalisierungsfragen in der Justiz, Sina Dörr, reden wir über den breiteren Zugang zum Recht, agiles Mindset und was Bürger:innen wirklich brauchen.  - Alexandra Lorch


Sina Dörr ist derzeit Richterin am LG Bonn, nachdem sie bis Ende 2022 im Bundesjustizministerium als Teil der Projektgruppe Legal Tech abgeordnet war. Sie gilt als zivilgesellschaftliche Expertin für Digitalisierungsfragen in der Justiz und tritt im Zuge dessen seit Jahren als Speakerin für Digitale Transformation auf. 2017 bis 2020 war sie im Organisations- und IT-Dezernat des OLG Köln und leitete 2014 bis 2017 die ersten Pilotprojekte zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs.

Sie hat in Köln studiert und ihr zweites juristisches Staatsexamen absolviert.


Welches Mindset zeichnet die Juristinnen und Juristen von morgen aus?

Die Frage kann man meines Erachtens auf alle Berufsgruppen ausweiten – aber natürlich betrifft es Juristinnen und Juristen in ganz besonderen Maß, weil wir Rechtsbeziehungen gestalten und das Recht alle Lebensbereiche durchwirkt: Gerade die schnellen Veränderungen des digitalen Zeitalters fordern ein innovationsfreudiges Mindset, um mit dem schnellen und tiefgreifenden Veränderungsdruck mithalten zu können. Die Veränderungen finden in unserer Umwelt statt, aber wir müssen im Inneren darauf reagieren, und zwar sowohl als Individuen als auch als Organisationen.          
Was ich damit meine ist: Wie gehen wir an die Fragestellung heran? Auf welche Art und Weise suchen wir nach Lösungen? Welche Mentalität steht dahinter und herrscht in Organisationen?

Dabei schaue ich aus der Brille des öffentlichen Dienstes. Deren Mindset entstammt überwiegend noch dem analogen Zeitalter und ist im Umgang mit dieser hohen Veränderungsgeschwindigkeit (noch) nicht geschult, ganz gleich, ob es um Gesetzgebungsverfahren oder die Arbeitsweise von Gerichten und zum Teil auch noch die Arbeitsweise von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten geht. Daraus gilt es Konsequenzen für die Ausbildung zu ziehen, welche der Maßgabe des Mindsets (auch) nicht genügt.

 

Sehr spannend, können Sie zum Einfluss des Mindset noch etwas ausführen?

Über den Einfluss des Mindsets gibt es bereits umfangreiche Forschung: Carol Dweck hat damit begonnen die Bedeutung des Mindsets für das Ergebnis, dessen Qualität und unsere Entscheidungen zu untersuchen. Dabei hat sie festgestellt, dass es nicht immer nur auf unsere Fähigkeiten oder Intelligenz ankommt, sondern vielmehr darauf, mit welcher Haltung wir an Fragestellungen und an Problemlösungen herangehen. Aus ihrer Forschung ist die Grundlagenforschung zum agilen Mindset hervorgegangen. Wie kann man agil operieren? Das ist der Kern und den finde ich sehr spannend.

Ich bin selbst im Coaching ausgebildet und arbeite an gerade diesen Fragestellungen. Daher denke ich, dass das Mindset das wichtigste ist, was wir für Innovationsprozesse und die Zukunft brauchen.  Wenn wir das richtige Mindset haben und damit viele Perspektiven in Entscheidungsprozesse einbinden, diese dynamisch gestalten, dann bekommen wir qualitativ hochwertige Ergebnisse - von ganz allein. Wenn man es schafft strukturelle Mindset-Arbeit zu machen, dann, glaube ich, findet man für alles andere auch gute Lösungen. Das ist die Basis für den Umgang mit dem digitalen Zeitalter.

Leider kann ich solche Entscheidungsstrukturen in der Politik und der Justiz nicht beobachten. Die Art und Weise der Arbeit ist noch zu veraltet, zu hierarchisch, zu umständlich, zu kompliziert. Sie erzeugt unglaubliche Reibungsverluste und verschleißt auch massiv Ressourcen, die wir in Zukunft überhaupt nicht mehr haben werden. Deswegen ist sie nicht in der Lage, den Herausforderungen der digitalen Transformation angemessen zu begegnen. Dabei ist es egal, in welchem Bereich wir schauen, ob das Bildung ist, der Umgang mit Pandemien oder eben auch die Justiztransformation mit 15 Jahren Rückstau, die wir kürzlich attestiert bekommen haben.

 

Wie kann man ein solches agiles Mindset erlernen?

In Workshops haben wir die gesamten Führungshierarchien geschult und sie die Fragen beantworten lassen: Was bedeutet digitale Transformation eigentlich? Wie verändert sich unser Außen? Um für gegenwärtige Arbeitsweisen und Defizite zu sensibilisieren. Dennoch fehlen meiner Kenntnis nach Programme (wie z.B. Legal Tech Germany), die darauf ausgerichtet sind, Entscheidungsträger konsequent und kollektiv zu schulen. Es reicht nicht, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Ministeriums zu beschulen. Denn diese arbeiten in einer der ausgeprägtesten Hierarchien, die man sich vorstellen kann. Wir müssten verbindliche, obligatorische Fortbildungs- oder Trainingsprogramme für Führungskräfte im öffentlichen Sektor auflegen und durchsetzen, was ich auch für absolut machbar halte.

Diese Kompetenz ist meiner Meinung nach so grundlegend, dass es nicht nur Juristinnen und Juristen betrifft, sondern schon fast zum Schulstoff und als methodisches Mittel natürlich in die Studienordnung gehört. Ich würde dabei aber nicht speziell agiles Arbeitenschulen, sondern voraussetzen, dass es Lehrveranstaltungen immanent in sich tragen.  

Im Vergleich dazu ist z.B. Kanada das absolute Musterbeispiel: Sie gehen agil mit einem lernenden Mindset vor, prüfen sich die ganze Zeit und überlegen, was besser gemacht werden könnte und das ist uns ja total fremd.

 

Sie waren zudem 2014-17 beim Pilotprojekt zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs beteiligt. Welche Ziele wurden damit verfolgt, erreicht und sind noch zu verwirklichen?

Der elektronische Rechtsverkehr bildet das Briefpost-System ab und ist zwar wahnsinnig kompliziert, aber sicher. Ziel war es, elektronische, vollständig papierfreie Kommunikationswege zum Gericht und zurück zu den Verfahrensbeteiligten zu schaffen. Das hat aber nichts mit digitaler Transformation zu tun, da nur das Medium ausgetauscht, die Prozesse aber gleichgeblieben sind. Parallel dazu wurde die elektronische Akte eingeführt. Beide Projekte muss man sich gemeinsam vor Augen halten.  

Um aber vollständig papierfreie Kommunikationswege zu etablieren, müssen auch die Bürgerinnen und Bürger eingebunden werden, die ohne anwaltliche Vertretung an einem Gerichtsverfahren beteiligt sind. Man braucht also – was es zurzeit nicht gibt – ein "Bürgerpostfach". Für dieses wird eher erwartet, dass man mit einer Website über eine Plattform kommunizieren und Daten hochladen kann, was aber so wie der elektronische Rechtsverkehr bisher aufgebaut ist, nicht möglich ist. Deswegen glaube ich, dass dieser, wenn überhaupt, nur eine Daseinsberechtigung für professionelle Verfahrensbeteiligte hat.

 

In letzter Zeit hat die Pandemie vieles beschleunigt. Hat sie auch in den Gerichten und dem öffentlichen Dienst eine neue Offenheit gebracht, schneller zu handeln?

Ich glaube, dass es nicht die Pandemie allein war, die das zuletzt so beschleunigt hat. Es gab schon vor der Pandemie eine Arbeitsgruppe der OLG Präsidenten, an der auch ich beteiligt war, die 2021 das Arbeitspapier zur Modernisierung des Zivilprozesses [1] erstellt haben, welches viel Aufsehen erregt hat.

Aber die Pandemie hat dem Thema natürlich einen Booster gegeben. Vor allem hat sie dafür gesorgt, dass Vertrauen in die remote Abwicklung bestimmter Prozesse entstanden ist.

Die Pandemie hat uns aber auch vor Augen gehalten, wie vulnerabel und kritisch unsere Infrastruktur ist. Was passiert denn, wenn in einer Pandemie so eine Rechtsantragsstelle einfach mal ein halbes Jahr zu machen muss? Dann ist plötzlich keine rechtliche Basisversorgung mehr gewährleistet.

 

Vertrauen (in technischen Möglichkeiten) ist ein gutes Stichwort. Gibt es Unterschiede zwischen den Generationen? Besteht da sowas wie ein „Generationenkonflikt”?

Losgelöst von der Frage des Vertrauens haben wir einen „Generationenkonflikt“. Wir arbeiten zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mit vier bis fünf Generationen gleichzeitig am Arbeitsplatz. Und zwar mit Generationen, die komplett unterschiedlich sozialisiert sind. Es arbeiten Leuten, die noch komplett analog groß geworden sind, mit Digital Natives und mit Leuten wie mir, die eine Art Mittelding sind, zusammen. Diese Generationen haben unterschiedliche Wertesysteme. Das fängt damit an, ob man “du” oder “Sie” sagt, und endet mit Fragen danach, wie wichtig Arbeit ist und was Hierarchien sind. Es ist normal, dass zwischen dabei Spannungen entstehen und auch gar nichts Schlimmes, im Gegenteil. Wir müssen begreifen, dass Vielfalt – gerade im öffentlichen Sektor – etwas Gutes ist. Gute Lösungen entstehen nicht, wenn alle das Gleiche denken und niemand widerspricht, sondern vor allem durch Diskurs. Auch und gerade in einer Behörde.

Dass die Jungen offener als die Alten sind, würde ich nicht sagen, weil ich erlebt habe, dass es auch bei Leuten, die jünger sind als ich, ein verkrustetes Mindset geben kann. Gleichzeitig habe ich ganz viele Menschen gehabt, die meine Projekte und mich unterstützt haben, obwohl sie deutlich älter waren als ich.

 

Wir hatten es gerade schon kurz angeschnitten, auch mit diesen Bürgerinnen und Bürgern, die vielleicht durch so eine Eingabemaske oder so was mittlerweile dann klagen könnten. Verändert sich dadurch das Klageverhalten der Menschen?

Wie sich das Klageverhalten ändert, müssen wir beobachten. Wir wollen einen breiteren Zugang zum Recht ermöglichen, so dass Menschen das Gefühl haben, nicht wehrlos und ohnmächtig zu sein, weil sie das System nicht verstehen. Von daher ist digital nicht die Antwort, sondern was Bürgerinnen und Bürger brauchen, sind die Informationen und eine Navigation, um selbst autonom handeln zu können.

Es sollte staatliche Aufgabe sein, die Gesetze so zu erklären, dass die Menschen sie auch verstehen können und wir also nicht ein System unterstützen oder fortschreiben, für dass teure Übersetzerinnen und Übersetzer gebraucht werden. Dadurch entstehen Wissensmonopole und damit Machtmonopole. Diese Wissensasymmetrie führt laut einer Studie von Michel Wrase [2] dazu, dass wir totale Ungleichgewichte beim Zugang zum Recht haben. Und wer wird zurückgelassen? Natürlich strukturell benachteiligte Gruppen. Das ist meines Erachtens ein großes Problem. Wenn wir anfangen, mit Empirie zu arbeiten, dann werden wir Wahrheiten wie diese sehen, vor denen wir die Augen nicht verschließen können.

 

Wie kann ich mir Justiz 2030 vorstellen?

Ich glaube, dass wir digitale Kommunikationsplattformen und Kommunikationskanäle haben werden. Aus einem Arbeitspapier der Justice Gruppe des Vereinigten Königreich mit dem Titel „Preventing Digital Exclusion from Online Justice”[3]  geht hervor, dass ein Multi-Channel Approach benötigt wird, d.h. man allen Gruppen etwas anbieten muss. Natürlich nicht nur digital, sondern auch analog. Ich stelle mir vor, dass man tatsächlich auf ganz vielen Kanälen die Justiz erreichen kann. 

Außerdem denke ich, dass wir 2030 in den Bürgerverfahren (in Verfahren vor den Amtsgerichten, die ohne Anwälte geführt werden), Justiz-Plattformen nutzen werden und ich wünsche mir, dass wir auch in Verfahren mit Anwältinnen und Anwälten datengetriebener arbeiten werden.

Zurzeit nutzen Kanzleien Künstliche Intelligenz, um ihre Schriftsätze zu generieren, in denen sie sechs Datenpunkte verstecken, auf die es für die Entscheidung ankommt. Gerichte nutzen wiederum nutzen KI, um diese sechs Datenpunkte herauszufiltern, was wahnsinnig ressourcenaufwändig ist und sehr viel Strom benötigt, also nicht nachhaltig ist. Zukünftig könnte man sagen, dass sechs Datenpunkte, zur Entscheidung des Verfahrens benötigt und auch ausschließlich diese übermittelt werden. Das geht, wenn man datengetriebene Verfahren führt und man überwiegend mit Datenplattformen kommuniziert, sodass Richterinnen und Richter nur noch entscheiden müssen.

 

Wie schätzen Sie Ihre persönliche Rolle ein? Gibt es Rückhalt und zieht dieses Momentum auch viele neue Juristinnen und Juristen, Richterinnen und Richter mit ins Boot?

Ich verstehe mich selbst und meine Arbeit so, dass ich mich dafür einsetze, offen, außerhalb der Box sowie möglichst agil zu denken. Dabei sehe ich mich als Impulsgeberin mit dem Ziel, den demokratischen Rechtsstaat zu behüten und zu verteidigen. Dafür ist es wichtig, bürgernah zu sein, nutzerzentriert zu arbeiten und verständliche Angebote zu schaffen, um Vertrauen in den Rechtsstaat zu schaffen. Das ist der Gedanke, der mich antreibt.

Es gibt dazu auch großen Rückhalt: Viele Richterinnen und Richter sehen das ähnlich. Man muss dabei immer differenzieren zwischen diesen und den Entscheidungsorganisationen, in denen sie arbeiten. Es gibt Entscheidungsträger in der Gerichtsorganisation, in der Landesjustizorganisation und im Bundesjustizministerium in denen die Strukturen so verkrustet sind, dass die Rückhaltungskräfte immer noch größer als die Unterstützung der Richterinnen und Richter für solche Innovationsprozesse sind.

  

Zum Abschluss ein kleines Gedankenexperiment: Welche drei Projekte würden Sie am liebsten direkt in Angriff nehmen wollen, um die Transformation in eine Justiz 2030 voranzutreiben?

Eines der wichtigsten Anliegen von mir als Justizministerin wäre es, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen.
Das ist ein sehr gefährdetes Gut, wie man in anderen Ländern sieht, weil mit einfachen gesetzlichen Änderungen bestimmte Garantien leicht ausgehöhlt werden können. Die Rechtsstaatlichkeit umfasst in unserer Demokratie u.a. die Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz. Ich würde dafür sorgen, dass die Justiz wirklich unabhängig ist, indem es keine politische Einflussnahme bei Richterämtern und der Auswahl von Richterinnen und Richtern gibt - gleich auf welcher Hierarchieebene und Instanz.

Außerdem würde ich dafür sorgen, dass unsere Demokratie wehrhaft in dem Sinne ist, dass auch das Beamtentum wehrhaft ist und innerhalb meines Ministeriums dafür sensibilisieren, dass alle in erster Linie vor allem an Recht und Gesetz gebunden sind.

Zu den drei Digitalprojekten:

Ich würde innerhalb meines Hauses die Entscheidungsstrukturen konsequent dazu befähigen, agil zu arbeiten und denken um in Transformationsprozessen und digitaler, disruptiver, veränderter Umwelt gute Entscheidungsprozesse gestalten zu können. Das betrifft besonders die Führungspositionen und ist Grundvoraussetzung für Folgeprojekte.

Weiter würde ich mich um die Etablierung bundesweiter Governance-Strukturen kümmern. Wir brauchen eine Infrastruktur, in der wir entscheidungs- und handlungsfähige Gremien haben, die in ein föderales Staatsgebilde eingebunden sind. Da die Lösung dieser Fragestellung sehr komplex ist, würde ich mich an den Empfehlungen des Normenkontrollrates [4] orientieren.

Als drittes Projekt, würde ich digitale Zugänge für Bürgerinnen und Bürger zur Justiz ermöglichen, wie es derzeit bereits im Gange ist.

 

Herzlichen Dank für Ihre spannenden Ausführungen und das Interview!

Fußnoten:

 [1] https://www.brak.de/newsroom/newsletter/nachrichten-aus-berlin/2021/ausgabe-2-2021-v-2712021/modernisierung-des-zivilprozesses-diskussionspapier-der-olg-praesidenten/

 [2] https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2022/p22-004.pdf

 [3] https://justice.org.uk/our-work/assisted-digital/

 [4] https://www.normenkontrollrat.bund.de/nkr-de/aktuelles/monitor-digitale-verwaltung-6-1958280

 



Interviewer

Dieses Interview wurde von Alexandra Lorch geführt. Alexandra ist Co-Head der Interviewreihe und seit ihrem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg bei eLegal. Sie arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Frankfurt.

 
Vincent GrafSina Dörr