"Legal Tech im Jurastudium funktioniert"

 

Legal Tech? Das ist für viele Jura Studierende ein Fremdwort. Florian Specht möchte genau das ändern. Als Lehrbeauftragter für die Legal Tech Veranstaltung an der Leibniz Universität Hannover vermittelt er aber nicht nur trockenes Wissen, sondern bringt den Studierenden Legal Tech durch praktische Einheiten näher. Wir sprechen mit ihm darüber, wie sich Legal Tech in das Jurastudium integrieren lässt, warum es sich lohnt, sich frühzeitig mit Legal Tech zu beschäftigen und wie es mit der Digitalisierung bei Gericht aussieht. Abschließend gibt uns Florian noch einen Einblick, wie sich die Gerichtsbarkeit durch den Einfluss von künstlicher Intelligenz weiterentwickeln kann.  - Friederike Ammann


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Florian Specht ist Rechtsanwalt, Social Entrepreneur und als Consultant für die QNC GmbH (frag-einen-anwalt.de) tätig. Seit dem Wintersemester 2017/18 leitet er die Legal Tech Veranstaltung an der Leibniz Universität Hannover. Mit der Digitalisierung des Rechts beschäftigt er sich seit 2012, damals noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Kanzlei in Hannover. Dort hat Florian, bis zum Referendariat 2017, die digitale Identität der Kanzlei, aber auch Rechtsprodukte entwickelt, vor allem im Bereich des Bank- und Kapitalmarktrechts. Er ist Autor des Buches Jura geht auch anders im Beck Verlag und hat jüngst erst das Fallskript Rechtsanwaltsklausuren im Assessorexamen (Zivilrecht) mitveröffentlicht.


Aktuell befinden wir uns aufgrund der Corona-Pandemie in einer außergewöhnlichen Situation. Diese verheerende Krise hat große negative Folgen für unser alltägliches Leben. Denkst du, dass die Corona-Pandemie die Digitalisierung voranbringt? Und wenn ja auf welchen Gebieten besonders?

Also ich glaube das schon, dass das passiert. Das ist ja das, was sich jetzt zeigt, dass Prozesse, die jetzt noch laufen ja nur laufen, weil sie digitalisiert sind. Viele Arbeitnehmer sind im Home-Office und versuchen von dort aus, ihre Arbeit weiterzuführen. Das ist auch das, was ich so von Freunden und Bekannten gehört habe, wenn ich telefonierte: "Mein Arbeitgeber hat lange gesagt, dass sowas wie Home-Office auf keinen Fall geht. Und auf einmal war das in Bruchteilen von Tagen möglich." Schnell wurden noch irgendwelche Laptops organisiert und Systeme für private Endgeräte geöffnet. Also die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie – das ist vielleicht ein großer Punkt, der auch noch nach der Corona-Pandemie bleiben wird.

Ich finde es tatsächlich interessanter, zu gucken, was Corona – gar nicht auf die Digitalisierung bezogen – mit unserer Gesellschaft macht. Was ich so merke ist, dass es jetzt zwar immer noch viele Fake News gibt, die verbreitet werden. Aber Experten bekommen in letzter Zeit eine immer höhere Bedeutung. Das Robert-Koch-Institut dient als Informationsquelle. Vielleicht sind das ja so Sachen, die nach der Corona-Krise so bleiben. Das wieder stärker in den Vordergrund rückt: „Wer sind eigentlich die Experten?“ und „Woher bekomme ich valide Informationen?“.

Ich hoffe und kann mir sehr gut vorstellen, dass bei dem Stichwort Klimawandel die Corona-Krise auch nochmal was ist, was total den Antrieb geben kann. Wenn es klare Ansagen von der Regierung gibt, was jetzt gemacht werden soll, wie viele Leute auch bereit sind, zuhause zu bleiben oder zurückzustecken. Das muss beim Klimawandel ja gar nicht so radikal laufen, wie es jetzt der Fall ist.

Das wären wirklich Sachen, bei denen ich sage, dass die – über die Digitalisierung hinaus – spannend zu betrachten sind. Da sehe ich auch ganz großes Potenzial, dass wir da auch nach Corona noch draus schöpfen können.


Was bleibt von der Digitalisierung übrig, wenn die Krise bewältigt ist?

Ich kann mir wirklich vorstellen, dass vieles wieder auf den Stand vorher zurückgedreht wird, einfach weil es bekannt und bewährt ist. Aber ich hoffe, dass ganz viele Leute gestützt werden, in ihrer Argumentation gegenüber dem Arbeitgeber. Dass man eben sagt, das hat doch gut funktioniert. Und dass man da vielleicht einfach gemeinsam überlegt: „Was war denn positiv und welche Prozesse man eben inhouse - also im Unternehmen - bearbeiten muss, weil Workflows nur dort funktionieren." Und wo Flexibilität bei der Arbeit angebracht ist. Und – wie gesagt- gerade die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ist wirklich so etwas, bei dem Arbeitnehmer durch die Corona-Zeit jetzt bestärkt in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber treten können. Ich glaube, dass das bleibt.


Legal Tech

Legal Technology, kurz Legal Tech, steht für Software und Online-Dienste mit rechtlichem Bezug. Gleichzeitig ist Legal Tech sinnbildlich für den Einzug der Digitalisierung in der juristischen Branche. Der Begriff ist weit zu verstehen - er bewegt sich von unterstützenden Verwaltungstools, Automatisierungstools wie Vertragsgeneratoren und digitalen juristischen Plattformen bis hin zu Online-Rechtsdienstleistungen für Verbraucher. Die Technologie verspricht eine Effizienzsteigerung von Rechtsabteilungen, Kosteneinsparungen und leichteren Zugang zu Rechtsschutz für Bedürftige.


Du bist Lehrbeauftragter an der Leibniz Universität Hannover. Welche Inhalte behandelst du im Rahmen deiner Legal Tech Veranstaltung?

Das ist über die Semester jetzt immer mehr geworden. Mittlerweile mache ich es zum Glück auch nicht mehr allein, sondern habe Unterstützung von Michael Friedmann, dem Geschäftsführer von der QNC GmbH, also frag-einen-anwalt.de. Es ist eigentlich so, dass wir so gut wie immer mit einer Einführung zu Legal Tech starten, also einen Überblick geben, was es so an Legal Tech Angeboten im deutschen Markt gibt. Zudem werfen wir noch einen kleinen Blick nach Amerika.

Dann gucken wir noch, was denn so Auswirkungen auf die Rechtsbranche sind – speziell in Bezug auf die Anwaltschaft. Das sind auch Fragen über die Vereinbarkeit von Legal Tech und dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG). Wir gucken aber auch, was mit der Digitalisierung in der Justiz ist.

In der Vergangenheit habe ich auch einen Vortrag zur Einführung in die Funktionsweise der Blockchain gehalten. Man merkt aber, dass man mit der ganzen Fülle an Themen nicht mehr hinterherkommt. Wir haben zusätzlich nämlich auch Workshops, die einfach viel Zeit in Anspruch nehmen. Ein Workshop ist zum Beispiel zum Thema Legal Design Thinking. Bei dem Workshop sollen sich die Teilnehmer selbst ausprobieren, kreativ tätig sein und eine eigene Legal Tech Lösung entwickeln. Das muss eben auch begleitet und angeleitet werden. Und da geht wirklich sehr viel Zeit bei drauf. Genauso macht dann Michael Friedmann später auch eine Einführung, aber eben auch einen praktischen Workshop zum Thema Machine Learning. Bei diesem Workshop trainieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein eigenes Expertensystem. Auch das nimmt einen Großteil der Vorlesungszeit ein. Wir mussten sogar einige Inhalte streichen. Mittlerweile habe ich beispielsweise das Thema Blockchain gestrichen und auch die Digitalisierung der Justiz behandle ich in der Regel nicht mehr. Ich frage die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann auch immer, was sie gerne machen möchten. Ob sie gerne etwas Praktisches machen möchten also etwas entwickeln wollen. Das ist eben auch meistens das, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer machen wollen. Dafür sage ich dann aber auch, dass dafür die Theorie kürzer ausfällt. Aber das kommt meistens auch sehr gut an bei den Leuten.


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Das im Jahr 2000 gegründete Unternehmen QNC (GmbH) war das erste Legal- Tech-Unternehmen Deutschlands und bot als Erstes preiswerte Online- Rechtsdienstleistungen mit voller Kostentransparenz an. QNC hat seinen Firmensitz in Hannover und betreibt die Websites www.123recht.de, www.frag-einen-anwalt.de sowie www.anwalt-prime.de (Prime Legal), eine „digitalen Rechtskanzlei“-Plattform.


Du hast den Gorgias-Lehrpreis für Rhetorik und Didaktik für deine Veranstaltung erhalten. Was unterscheidet deine Lehrmethoden von herkömmlichen Lehrmethoden? Welchen Ansatz verfolgst du?

Seit der ersten Veranstaltung fordere ich von meinen Hörerinnen und Hörern eine aktive Teilnahme ein, sodass eine Interaktion und eine lebhafte Diskussion entsteht. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass da teilweise wirklich Expertinnen und Experten sitzen, die jung und digital affin sind und manchmal auch Expertise mitbringen, die weit über meine hinausgeht. Und das macht dann auch gar keinen Sinn, sich da vorne hinzustellen und irgendetwas zu erzählen. Stichwort: Blockchain. Da hatte ich zum Beispiel mal einen Teilnehmer, der hat da selber schon mal experimentiert und wollte selber eine digitale Währung aufsetzen. Was soll ich dem dann noch groß erzählen oder beibringen? Ich versuche da wirklich immer ganz viel Input von den Studierenden mit reinzunehmen und sie auch einfach machen zu lassen. Dann ist das Ganze auch ein Austausch und eine Diskussion über die Entwicklung der Rechtsbranche, die auf Augenhöhe passiert. Ich versuche auch, möglichst viel Praxisbezug reinzubringen. Dass man die Leute eben Sachen austesten lässt. Ich möchte den Studierenden damit zeigen, wie sie ihr Wissen, das sie sich im - doch teilweise als sehr trocken empfundenen- Jurastudium angeeignet haben, auch praktisch anwenden und einsetzen können. Um Legal Tech und Legal Tech Lösungen zu programmieren, brauche ich eben auch Inhalte die ich da reinsetzten kann. Und da merken eben auch viele Studierende: „Mensch, das ergibt ja richtig Sinn, dass ich mich mit Jura beschäftige und mir bestimmtes Wissen aneigne“.


Angenommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben noch keine Berührungspunkte mit Legal Tech: Wie finde ich einen guten "Einstieg" in das Thema?

Ich denke, dass ich durch meine Vorlesung einen guten Einstieg in das Thema Legal Tech bieten kann. Ich hoffe, dass ich die Leute mit meiner Vorlesung da auch abhole. Das ist meist auch nötig und dauert in der Regel so ein bis zwei, maximal drei Vorlesungseinheiten. Darüber hinaus kann ich den Leuten eine aufgezeichnete Vorlesung von Martin Fries empfehlen. Wenn es Legal Tech an der eigenen Uni nicht gibt, kann man sich dort gut informieren. Es gibt eigentlich in jeder größeren Stadt auch Legal Tech Meetups. Das interessante an den Meetups ist, dass man dadurch in ein Netzwerk reinkommt und sich austauschen kann. Dadurch kann man sich sehr schnell sehr viel Expertise aneignen und sein Wissen auch auf weitere Informationen stützen. Des Weiteren kann ich auch studentische Initiativen empfehlen. Auch das ist immer eine tolle Sache, wenn man sich für Legal Tech interessiert.


Was ist das Wichtigste, was die Studentinnen und Studenten aus deiner Lehrveranstaltung mitnehmen sollten?

Ich versuche Begeisterung zu wecken – Begeisterung für die Digitalisierung.

Ich weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, dass es in der Schule, aber auch im Studium, darum geht, sich mühevoll hinzusetzen und dass man sich manchmal auch durchquälen muss. Das macht in den allermeisten Fällen nicht immer wirklich Spaß. Legal Tech und die Legal Tech Vorlesung soll da eben was anderes sein. Es soll ein Angebot sein, was die Leute gerne in Anspruch nehmen, weil es etwas Lebendiges ist. Die Leute sollen merken, dass sie das, was sie sich mühsam aneignen, jetzt gewinnbringend einsetzen können und Verknüpfungen herstellen können.

Am Ende geht es mir darum, dass die Studierenden gestärkt aus der Veranstaltung rausgehen. Zum einen, weil in der Digitalisierung des Rechts – und die fängt ja gerade erst an – noch ganz viele Möglichkeiten ungenutzt sind und noch ein Mehrwert für unsere Gesellschaft geschafft werden kann. Durch Legal Tech können Ansprüche auch für einen Großteil der Gesellschaft durchgesetzt werden, der damit noch nicht so sehr in Berührung gekommen ist, was an deren fehlenden finanziellen Möglichkeiten liegen könnte. Die Studierenden haben also die Chance, wirklich einen sozialen Mehrwert zu schaffen und da selber was auf die Beine zu stellen. Zum anderen gehen sie gestärkt aus der Veranstaltung, weil sie sich so ein kleines Skill-Set aneignen können. Vielleicht zur eigenen Selbständigkeit, aber auch, um dem Arbeitgeber sagen zu können: Ich bin digital affin und habe mir gewisse Sachen während des Studiums angeeignet. Das sind ja wirklich Fähigkeiten, bei denen jetzt Bedarf besteht. Man baut sich dadurch eben eine wirklich gute Position aus, in der man sich nicht klein machen und nicht wegducken muss vor einem Arbeitgeber. Dadurch ist man dann auch einer Verhandlungsposition, in der man sich nicht alles gefallen lassen muss.


An vielen Universitäten ist das Thema Legal Tech noch nicht Teil der Ausbildung – die Leibniz Universität Hannover ist mit einigen anderen Universitäten ein Vorreiter auf diesem Gebiet. Woran liegt es, dass das Legal Tech bei vielen Universitäten weniger Bedeutung beigemessen wird?

Ich finde, wenn man sich die einzelnen Lehrstühle anschaut, gewinnt man schon den Eindruck, dass das Thema Legal Tech auch in den Universitäten angekommen ist. Viele Professoren forschen dazu, beispielsweise im Bereich des Strafrechts, wo untersucht wird, ob man den Strafrahmen angleichen kann, über einen Abgleich zu alten - bereits gefällten - Strafurteilen. Dann das Stichwort "Autonomes-Fahren", Haftung und Versicherung von KI. Das sind Sachen die intern, und das ist leider schade, an den Lehrstühlen diskutiert werden – vielleicht noch mit den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Aber das Problem ist, dass es eben nicht darüber hinausgeht. Es schwappt nicht in das Studium als solches hinein. Das liegt vermeintlich daran, dass keine Berührungspunkte zur klassischen Lehre bestehen. So eine BGB AT-Veranstaltung ist eben doch etwas anderes, als wenn man am eigenen Lehrstuhl mit seinen Mitarbeitern über Haftung bei KI diskutiert.

Dann – das wäre aber eine Mutmaßung - ist es für den einen oder anderen vielleicht auch schwierig, sich diese neuen Prozesse anzueignen. Am Ende sind die Professorinnen und Professoren auch nur Menschen und es kostet immer Zeit und Energie, sich Neues anzueignen und etwas zu wagen. Die Vorlesungen - Stichwort: BGB AT, aber das gilt auch für alles andere - laufen ja auch so weiter und sind nach wie vor höchst prüfungsrelevant, ohne dass ich mich dafür groß umstellen muss.

Und dann habe ich auch selber schon erlebt, dass einige das abtun und sagen, dass das am Ende nichts anderes ist, als die Rechtsinformatik. Das wurde schon mal ausprobiert, aber hat sich nicht wirklich durchgesetzt. Und es kann eben auch sein, dass sich einige in der Forschung für sich interessante Sachen rauspicken, aber das ganze Thema ansonsten einfach liegen lassen.


Sollte man dann vielleicht Legal Tech als Pflichtfach in das Studium integrieren? Vielleicht sogar gleichwertig mit dem Zivilrecht, dem öffentlichen Recht und dem Strafrecht?

Da bin ich dagegen. Ich gehe da von meinen eigenen Erfahrungen aus. Ich habe damals mit einem Kollegen zusammen ein Buch über das Jura Studium geschrieben. In diesem Zusammenhang haben wir uns auch angeschaut, wie das mit der Belastung im Studium ist. Wenn man dazu recherchiert, findet man auch Erhebungen, dass gerade unter Studierenden Burn-Out immer weiter zunimmt. Ich glaube, man sollte sich eher mal hinsetzen und schauen, wie man Druck aus dem Jura-Studium herausnehmen kann. Zudem finde ich es wichtig, dass Versagensängste zugelassen werden und dass mit dem Thema offener umgegangen wird.

Ansonsten sollte man überlegen, wie man die Digitalisierung in den Pflichtfachstoff integrieren könnte. Das könnte beispielsweise im Zivilrecht so sein, dass man einfach die Sachverhalte updatet und an die neuen Realitäten anpasst. Ein Ansatzpunkt wäre da beispielsweise, nicht mehr so viel über das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht laufen zu lassen, sondern den Fokus auch mal auf das Leasing zu setzen. Zudem könnte man Vertragsschlüsse über das Internet behandeln. Und ich glaube, dass dann schon ein bisschen mehr getan ist.

Am Ende des Tages fordert Legal Tech auch gar nicht so viel, gerade weil wir als Digital Natives aufwachsen. Ich denke, dass viele nicht den Blick für digitale Geschäftsmodelle haben, weil man doch eher Konsument ist und auf der anderen Seite steht. Man nutzt viele Sachen, die auf den ersten Blick vermeintlich kostenlos sind. Man muss da den Blickwinkel ändern und einen Blick hinter die Kulissen dieser digitalen Geschäftsmodelle werfen. Das ist aber eine Sache, die meiner Meinung nach nicht viel Know-how erfordert. Legal Tech Lösungen brauchen Kreativität. Dann geht es eben darum, solche Geschäftsmodelle und Prozesse entwickeln zu können. Das muss am Ende des Tages aber auch nicht jeder Jurist machen. Es ist ausreichend, wenn es ein paar Leute gibt, die sich dafür interessieren, die für das Thema brennen, die man für das Thema Legal Tech begeistern kann. Die sollte man an die Hand nehmen. Dafür Legal Tech auf ein Level zu anderen Pflichtveranstaltungen zu heben, ist meines Erachtens nicht notwendig.


Momentan wird auch diskutiert, die klassische Juristenausbildung abzuschaffen und eher Mischstudiengänge beispielsweise aus Rechtswissenschaften und Informatik oder Wirtschaft zu etablieren. Was hältst du davon?

Ich bin dagegen, die klassische Juristenausbildung abzuschaffen. Wir diskutieren ja immer darüber, dass es in Zukunft viel mehr darum gehen wird, gemeinsam Expertenwissen zusammenzutragen, aber auch gemeinsam zu arbeiten. Ich glaube, dass das auch ein Vorteil der modernen Gesellschaft ist, dass wir die Arbeitsteilung haben und sich Expertisen bilden. Was man trainieren sollte, ist die Offenheit gegenüber anderen, d.h. sich mit anderen Fachdisziplinen auszutauschen. Ich bin der Meinung, dass es keinen Sinn ergibt, sich als Jurist vertiefte Informatikkenntnisse anzueignen. Ich glaube, dass es gut ist, sich gewisse Grundlagen anzueignen, damit man weiß, wie grundsätzliche Abläufe funktionieren. Das ist wichtig, um in Austausch mit anderen zu treten und zu wissen, welche Qualität ich von dem anderen erwarten kann. Das schützt auch davor, irgendwas angedreht zu bekommen. Aber ich denke, dass so ein Grundlagenwissen dann auch vollkommen ausreichend ist. Wir Juristen haben die wirklich wertvolle Aufgabe für die Gesellschaft Recht zu sprechen und sind damit gut beraten, wenn wir uns darauf spezialisieren. Wir sollten lieber schauen, dass es genug Juristen gibt. Die Zahlen sind ja – soweit ich das bei meiner Recherche für mein Buch gesehen habe – rückläufig. Es gibt immer mehr Leute, die Jura auch im Bachelor und Masterstudiengang studieren und dann eben nicht mehr die klassische Anwaltstätigkeit oder Richtertätigkeit ausüben können, sondern als Wirtschaftsjurist tätig sind.


In deinem Buch „Jura geht auch anders“ sagst du, dass beruflicher Erfolg im Rahmen der Digitalisierung nicht mehr von guten Abschlussnoten abhängt, sondern vielmehr von Fähigkeiten, die außerhalb des Hörsaals erlernt werden. Welche Fähigkeiten muss der Jurist in Zukunft mitbringen, um gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben?

Ich glaube ganz allgemein, dass in Zukunft eine höhere Spezialisierung notwendig ist, als es heute der Fall ist. Ich muss mir später als Rechtsanwalt genau überlegen, welche Rechtsgebiete ich mir aneigne. Die klassische „Wald-und-Wiesen-Kanzlei“ hat in Zukunft einfach keine Chance, weil durch digitale Prozesse und Softwarelösungen Zeit gespart werden kann. Als spezialisierter Anwalt kann man deshalb viel mehr Mandate in weniger Zeit bearbeiten. Diese Qualität in der Bearbeitung kann ich beispielsweise auch auf meiner Website sichtbar machen. Das sind Prozesse, die in anderen Bereichen schon längst stattgefunden haben. Ich glaube das ist etwas, was auch auf dem Anwaltsmarkt passieren wird.

Man sollte sich dann auch fragen, ob man die freie Zeit an den Mandanten weitergeben kann. Ich denke nämlich, dass es in Zukunft wichtiger wird, mehr auf den Mandanten einzugehen und ihm das Gefühl zu geben, für ihn da zu sein und ihm genau zuzuhören. Ich habe das in der Praxis leider anders erlebt. Ich habe erlebt, dass der Mandant als Störfaktor angesehen wird. Der wird am Telefon gerne abgewürgt oder das Sekretariat gibt die Auskunft, dass der Anwalt gerade nicht zu sprechen ist, den Mandanten aber zurückrufen wird. Das ist für den Mandanten, der ja anruft, weil er ein Problem hat, oftmals ein ganz schlechtes Gefühl. Der fühlt sich nicht abgeholt und ist unzufrieden. Es wird immer wichtiger, empathisch zu sein, dem Mandanten in die Augen zu schauen und ihm zu sagen, dass man sein Problem versteht und dafür eine Lösung finden wird. Das ist eigentlich das, was die Leute brauchen. Ich glaube, dass genau das durch Legal Tech erleichtert wird.


Vorrangig haben wir den derzeitigen Stand der Ausbildung und das Skill-Set des angehenden Juristen beleuchtet, dennoch kann die Digitalisierung nur gelingen, wenn auch die Gerichte mitziehen. Wie sieht überhaupt der Stand der Dinge bei den deutschen Gerichten aus?

Aktuell beschäftigt uns an den Gerichten die Corona-Pandemie. Ein paar Strafverfahren sollen ja jetzt noch laufen – die Zivilverfahren sind weitestgehend ausgesetzt. Ich habe gelesen, dass Ende letzter Woche die Legal Tech Szene um Dr. Halmer von wenigermiete.de einen offenen Brief an die Justiz geschrieben hat, dass man doch bitte Gebrauch von dem § 128a ZPO machen soll. Das ist in der ZPO der Paragraph, der Gerichtsverhandlungen beispielsweise per Videokonferenz erlaubt. Davon wurde in der Vergangenheit so gut wie gar nicht Gebrauch gemacht. Vielen Gerichten fehlt es dabei einfach an der entsprechenden und notwendigen IT, aber eben auch an der Kenntnis, solche Methoden einzusetzen. Ich kann da nur aus meiner Ausbildungszeit aus dem Referendariat erzählen. Viele Ausbilder haben sich über die IT-Systeme beschwert und gesagt, dass es echt erschreckend ist, wie die Systeme den Workflow behindern und dass sich wirklich was tun müsste. Also von dieser Seite besteht durchaus Bereitschaft und Hoffnung, dass sich da was tut und verbessert. Ich glaube, dass zur Wahrheit aber auch gehört, dass viele Anwälte die gesetzlich eingeräumten digitalen Möglichkeiten der Verhandlungsführung nicht abgerufen haben und deshalb bei den Gerichten auch gar kein Motivationsdruck entstanden ist, sich mit diesen Dingen zu befassen.


Wie schneidet Deutschland im europäischen Vergleich ab, was die Digitalisierung bei Gericht angeht?

In Dänemark beispielsweise gibt es seit 2016 nur noch ein digitales Prozessportal, über das der ganze Schriftsatzaustausch verpflichtend abgewickelt wird. Auch die spätere Urteilsverkündung ist dann digital und die Verfahrenskosten werden digital bezahlt. Wer dann sagt, das sind ja wieder die üblichen Verdächtigen, also Estland, Dänemark, der skandinavische Raum, die sowieso als digitale Vorreiter gesehen werden, dem kann man entgegenhalten, dass Portugal auch ein vergleichbares Verfahren längst schon eingeführt hat. Da ist also, wenn man sich so ein bisschen die EU-Nachbarländer anschaut, durchaus noch Entwicklungspotential für Deutschland da.


In deinem Artikel (Chancen und Risiken einer digitalen Justiz für den Zivilprozess“ MMR 2019, 153) behandelst du auch die außergerichtliche Streitschlichtung. Wie funktionieren digitale Streitschlichtungssysteme?

Ich hatte mir Amazon und Ebay angeschaut. Die greifen am Ende auf die PayPal-Konfliktlösung zurück. Ich wollte in meinem Aufsatz darauf aufmerksam machen, dass wir seit Jahren einen massiven Abfluss an Gerichtsstreitigkeiten in Zivilsachen haben. Ganz viele von diesen kleinen Verbraucherstreitigkeiten werden also direkt über den E-Commerce-Bereich abgehandelt. Das wird aber von den Nutzern gemocht. Ich habe in dem Aufsatz untersucht, warum das so ist. Man sieht dann, dass es in diesen Prozessen natürlich um Geschwindigkeit geht, es aber auch eine Sache der Kosten ist. Bei Produkten, die ich für 20 Euro oder noch weniger kaufe, wende ich mich nicht an einen Rechtsanwalt und auch nicht an ein Gericht, weil die Verfahrenskosten und das Prozessrisiko einfach zu hoch sind, so dass sich das nicht lohnt. Ich muss mich trotzdem damit auseinandersetzen und das haben sich eben auch Amazon und eBay gedacht; wie vermeide oder bewältige ich Konflikte und schaffe da eine Seriosität für die Kunden.


Könntest du dir vorstellen, dass diese außergerichtlichen Streitschlichtungssysteme in Zukunft die anwaltliche Beratung und die gerichtlichen Verfahren ablösen werden, sodass der Jurist überflüssig wird?

Das glaube ich überhaupt nicht. Die genannten Systeme sind aus den genannten Gründen - am Ende ist es eben eine Kostenfrage - sehr attraktiv. Aber es gibt auch große Nachteile. Ich bekomme keine Qualität in der Bearbeitung, weil ich keine gerechte Einzelfallentscheidung erwarten kann. Denn das ganze läuft ja standardisiert ab. Ich bekomme vor allem keine Entscheidungsbegründung. Das ist bei so kleinen Verfahren natürlich vollkommen in Ordnung, weil die Leute einfach ihr Geld zurückhaben wollen. Dementsprechend sind diese Plattformen auch konzipiert. Ganz grob – Ware und Geld sollen eben nicht bei demselben Menschen sein, sondern das soll voneinander getrennt sein. Also entweder hat der Verkäufer das Geld und der Kunde die Ware oder es soll andersherum sein. Da ist unser deutsches Recht natürlich viel ausdifferenzierter. Diese Ausdifferenziertheit muss man sich aber leisten und das schafft eben nur ein staatliches System. Dort sind die Richter dann auch unabhängig, also nicht dem Kundeninteresse als solchem verpflichtet, sondern können schauen, wie sind da einzelnen Positionen und Interessen zu gewichten.

Ich finde es daher spannender zu überlegen, wie sich die Gerichtsbarkeit durch den Einfluss von künstlicher Intelligenz wohl weiterentwickeln kann. In der ARD war vor ein paar Monaten eine ganz interessante Doku, bei der nochmal ganz eindrücklich dargestellt wurde, dass die Justiz heute schon komplett überlaufen ist und ein Verfahrensstau besteht. In den nächsten Jahren, also bis 2030, haben wir einen Rückgang von 50 bis 60 % der angestellten Richterinnen und Richtern zu erwarten, die dann in Pension gehen. Das ist die große Frage, wie das aufgefangen wird. In dem ARD-Beitrag ging es dann eindrucksvoll darum, dass ein Vater ein Strafverfahren eingeleitet und zur Anzeige gebracht hat, weil seine Tochter vergewaltigt wurde. Am Ende soll der Täter, so der Fernsehbeitrag, auch wegen der überlangen Verfahrensdauer ein verhältnismäßig mildes Urteil kassiert haben. In der Urteilsbegründung wurde dabei zugunsten des Täters die überlange Verfahrensdauer, die lange Zeit belastende Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens berücksichtigt. Der Vater hat unter Tränen erzählt, dass seine Familie zerbrochen ist, da er seiner Tochter nicht in die Augen schauen und sagen kann "Mensch, hier wird alles gut." Er hat gesagt, dass er hier jeden Monat Steuern bezahlt und sich explizit für das gerichtliche Verfahren entschieden hat - und dann kommt so ein Ergebnis heraus. Das ist natürlich ein krasser Einzelfall, aber man darf diese Leute nicht verlieren.

Ich denke, wegen dieser Arbeitsüberlastung bei den Gerichten, kommen wir gar nicht umhin uns zu überlegen, welchen Beitrag KI leisten kann und wie sich die Justiz dadurch verändert. Das sind wirklich spannende Fragen, die mich persönlich auch gerade beschäftigen.

Anmerkung: Der ARD-Beitrag kann hier abgerufen werden.


Wie wird die KI die Gerichtsbarkeit verändern?

Ich könnte mir vorstellen, dass die KI als Assistenzsystem verwendet, also rein unterstützende Tätigkeiten haben wird. Es gibt verschiedene Hürden, die – Stand heute – nicht genommen werden können. Zum einen rechtliche Hürden, wie die Unabhängigkeit und Entscheidungshoheit des Richters, die ja auch grundgesetzlich normiert ist. Zum anderen gibt es auch technische Hürden, die aktuell nicht überwunden werden können. Ich nenne nur mal das Stichwort Rechtsfortbildung. Machine Learning Systeme sind noch nicht in der Lage das Recht fortzuentwickeln. KI lernt aus Daten. Und das sind dann aber immer Daten aus der Vergangenheit. Dann ist aber Rechtsfortbildung nach vorne ganz schwierig möglich. Deshalb wird es in Zukunft definitiv – solange das der Stand der Technik ist – Leute geben, die geltendes Recht verstehen, anwenden und fortentwickeln und das sind eben wir Juristen. Dann gibt es darüber hinaus natürlich auch noch moralische Fragen. Wollen wir überhaupt eine Maschine haben, die wirklich rigoros über jeden Fall entscheidet. Oder ist es nicht vielmehr von der Gesellschaft gewünscht, dass wir am Ende in einem gerichtlichen Verfahren vor einem Menschen sitzen, also von einer Richterin oder einem Richter, die eben doch unseren Einzelfall anschauen und am Ende des Tages vielleicht auch Gnade vor Recht ergehen und da so ein paar weichere Faktoren mit einfließen lässt. Das ist dann natürlich auch sehr rechtsphilosophisch.


Lieber Florian - ich bedanke mich ganz herzlich bei dir für das interessante Interview.


Friederike Ammann

Das Interview wurde von Friederike Ammann geführt. Friederike hat Rechtswissenschaften an der Georg-August-Universität in Göttingen studiert und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz Universität Hannover.