"Ich denke der Fokus wird in den nächsten Jahren mehr auf Vereinfachung und Unterstützung als auf Ersetzung gelegt."

 

Während die Juristenausbildung weiterhin traditionell geprägt ist, verändert die Verfügbarkeit von Legal Tech das Berufsbild von Juristen und die Rechtsbranche als solche. Die mit der Digitalisierung des Rechts einhergehenden veränderten Mandantenerwartungen erhöht die Nachfrage nach funktionsorientierten Rechtsdienstleistungen. Welche Anforderungen werden durch diese Entwicklungen in Zukunft an den Rechtsanwalt und die Rechtsanwältin gestellt? Und ergibt sich daraus bereits bei der Juristenausbildung Handlungsbedarf? Unter anderem mit diesen Fragestellungen hat sich Christina-Maria Leeb im Rahmen ihrer Dissertation auseinandergesetzt. Wir sprechen mit ihr darüber, wie wichtig es ist, sich mit Legal Tech und den damit einhergehenden Chancen für den Anwaltsberuf auseinanderzusetzen, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein.  - Melanie Babougian


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Seit Abschluss der Ausbildung zur Justizfachwirtin im Jahr 2009 bis Mitte 2016 war Christina-Maria Leeb als selbstständige Verfahrensbeiständin und Ergänzungspflegerin in Familiensachen sowie Verfahrenspflegerin in Unterbringungs- und Betreuungssachen vorwiegend am Amtsgericht Deggendorf tätig. Von 2011 bis 2016 absolvierte sie ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Passau. Im September 2018 wurde sie als „Woman of Legal Tech 2018“ ausgezeichnet. Von August 2016 bis Juli 2018 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheits- und Internetrecht bei Prof. Dr. Dirk Heckmann an der Universität Passau beschäftigt. Anschließend hat sich Christina-Maria Leeb der Fertigstellung ihrer Dissertation gewidmet, welche im Herbst 2019 unter dem Titel „Digitalisierung, Legal Technology und Innovation – Der maßgebliche Rechtsrahmen für und die Anforderungen an den Rechtsanwalt in der Informationstechnologiegesellschaft“ erschien. Derzeit unterstützt sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin die Praxisgruppe IT/IP/Media der HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft in München.


Liebe Christina, ich freue mich dich hier begrüßen zu können. Ich weiß, dass du nicht direkt Jura studiert, sondern zuvor als Justizfachwirtin Erfahrungen gesammelt hast. Würdest du diese Entscheidung nochmal genauso treffen?

Ganz klar, ja! Durch die Praxiserfahrungen konnte ich mir schon ein gewisses Basiswissen aneignen, insbesondere was den prozessualen Bereich anbelangt. Dies erleichterte mir den Einstieg in das Jurastudium erheblich. Andererseits war mir auch bewusst, was in der Praxis eher eine untergeordnete Rolle spielt, also theoretischer Natur ist. Ich musste dann aber gleichzeitig auch etwas mehr Motivation aufbringen, um mir auch diesen Lernstoff anzueignen.


Deine Dissertation befasst sich auch mit dem Thema Digitalisierung. Wie konntest du diesen Prozess während deiner bisherigen Laufbahn beobachten?

Während meiner Zeit als Justizfachwirtin hat Software eine große Rolle gespielt. Im Rahmen meiner Ausbildung wurde viel Wert darauf gelegt, Anwendungskompetenzen zu erlernen. Sogar ein Teil meiner Abschlussprüfung hatte ganz selbstverständlich einen digitalen Bezug. Das Jurastudium wiederum verlief sehr traditionell - mit Block, Stift und Buch. Jetzt, während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Wirtschaftskanzlei, beobachte ich das Thema Digitalisierung intensiver denn je. Ich bin dort in gewisser Weise auf strategischer Seite aktiv. Meine Aufgabe in unserem Team ist es, den Legal Tech Markt zu beobachten und zu analysieren. Welche Entwicklungen gibt es? Wo stehen wir als Kanzlei? Daher beschäftige ich mich auch momentan intensiv mit dem Prozess der Digitalisierung.


„Legal Tech ersetzt die anwaltliche Arbeit doch, warum begeistert dich das Thema so?“ höre ich nicht selten von meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Anwaltschaft. Bist du auch solchen Fragen ausgesetzt?

Ja, das habe ich auch schon erlebt. Ich denke, dass solche Vorbehalte oft aus Unsicherheit und Ungewissheit resultieren. Was kommt da auf uns zu? Was wird sich wie verändern? Ich versuche in solchen Gesprächen mit vielen Informationen beizukommen oder auch mal in eine Diskussion einzusteigen. Es ist doch bereichernd, sich kontrovers auszutauschen. „Digital ist besser“ - in Anlehnung an Tocotronic - trifft sicherlich nicht auf alle Bereiche und Themen zu. Ich finde es gut und wichtig, sich hierzu kontrovers auszutauschen.


Welche Beobachtungen haben dich zu deinem Promotionsvorhaben motiviert?

Zum einen die sehr offenen Forschungsfragen, die zutage getreten sind in den ersten Beiträgen, auf die ich zu diesem Thema gestoßen bin. Ich habe 2016 mit meiner Arbeit begonnen, das heißt zu einer Zeit, in der die Diskussion über Legal Tech hierzulande ganz am Anfang war, ganz anders als in Amerika. Das Thema Legal Tech schwappte erst im Laufe der Zeit zu uns nach Deutschland rüber. Zunächst wurden viele berufsrechtliche Themen aber hier nur angerissen. Beim Lesen dachte ich mir teilweise ‚okay, hier müsste man jetzt eigentlich tiefer einsteigen‘. Insgesamt also eine gute Basis für eine Doktorarbeit: Ein Bereich, der wenig erforscht ist, aber zugleich sehr viele Fragen aufwirft. Und zu wissen, was man damit zum aktuellen wissenschaftlichen Diskurs beitragen kann, war dabei für mich die größte Motivation.

Zum anderen spielte auch mein persönliches Interesse an technischen Themen eine große Rolle. Ich wollte neue Kenntnisse erlangen, indem ich tiefer in diesen Themenbereich einsteige. Letztendlich war die Doktorarbeit im Bereich Legal Tech Chance und Herausforderung zugleich. Letzteres vor allem deswegen, weil das Thema kurz vor der Veröffentlichung enorm an Fahrt aufgenommen hat. Daher musste ich Teile der Arbeit immer wieder aktualisieren. Das letzte halbe Jahr habe mich ich dann mit einem Promotionsabschlussstipendium voll und ganz der Fertigstellung meiner Arbeit gewidmet, wofür ich unserer Uni sehr dankbar bin. Jeder und jedem, der bzw. dem sich die Möglichkeit der Förderung der Promotionsendphase auftut, kann ich wirklich dazu nur raten.


Im Vorwort prophezeist du: „Die Arbeitsweise von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten wird aller Voraussicht nach schon in wenigen Jahren in essentiellen Punkten nicht mehr derjenigen gleichen, die sie heute ist”. Welches sind diese essentiellen Punkte?

Ich denke, vor allem die nichtanwaltlichen Rechtsdienstleister werden immer weiter in den Markt drängen. Grund hierfür ist die stetig wachsende Nachfrage. Und bereits jetzt zeigen sich diesbezüglich liberale Tendenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die beispielsweise Reichweite der Inkassoerlaubnis weit auslegt. Und damit einhergehend werden bloße wissensreproduzierende Tätigkeiten in Kanzleien immer bedeutungsloser.


Wie sieht das zukünftige Leitbild des Anwalts im Gegensatz zu dem bisherigen aus?

Ich denke, das lässt sich an drei Aspekten aufzeigen. Zum einen werden wir eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Anwältinnen und Anwälten und anderen Berufsgruppen – auch mit Maschinen und evtl. auch Paraprofessionals – beobachten. Zum anderen werden wir uns wahrscheinlich weniger mit kern-juristischen Themen, sondern mehr mit der menschlichen Seite bzw. Beratung – Stichwort emotionale Intelligenz - beschäftigen. Der dritte Aspekt wird meiner Meinung nach sein, dass die Bereiche Betriebswirtschaft, Technik und Design immer mehr an Bedeutung gewinnen und damit einhergehend interdisziplinäres Denken und Agieren zur absoluten Schlüsselkompetenz wird.


Wie wird sich der Beruf des Anwalts durch neue technische Lösungen verändern? Und welche Auswirkungen wird das auf den Berufsstand haben?

Ich denke, in den nächsten Jahren wird der Fokus mehr auf Vereinfachung und Unterstützung als auf Ersetzung liegen. Wir hatten vorhin darüber gesprochen, dass einige Menschen den neuen Entwicklungen gegenüber skeptisch sind. Ich finde, man sollte die Chancen erkennen, die diese mit sich bringen und die darin liegt, dass wir uns einfache Routinetätigkeiten in Zukunft sparen und durch intelligente Technik ersetzen können, um uns mehr auf die spannenden Aufgaben zu fokussieren.


Was meinst du, wie viel Potenzial hat dieser Forschungsbereich aus deiner Sicht?

Ein enormes Potenzial! Vor allem aufgrund der Veränderungen auch auf tatsächlicher Ebene. Juristen bilden mit Rechtsnormen im Ausgangspunkt den tatsächlichen Sachverhalt ab, und der wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten (weiter) stark verändern.

Welche Forschungsschwerpunkte werden aus deiner Sicht in der nächsten Zeit auftreten?

Meiner Meinung nach wird die Bedeutung von einigen neueren Forschungsschwerpunkten zunehmen, besonders in zwei Bereichen: Zum einen der Bereich Blockchain und Smart Contracts, zum anderen Robotik und Künstliche Intelligenz.


Du arbeitest ja derzeit in der Kanzlei HEUSSEN in München. Was sind dort deine Tätigkeitsbereiche?

Zum einen bin ich schon ein paar Jahre im Team IT-, IP- und Medienrecht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und unterstütze das tägliche Business. Zum anderen beobachte ich als Analyst Digital Business Development im Team Digitalisierung und Legal Tech den Legal Tech Markt, z.B. welche Tools es gibt und welche für uns interessant sein könnten.


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Die HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH gehört zu den großen unabhängigen Wirtschaftskanzleien in Deutschland mit Standorten in Berlin, Frankfurt, München und Stuttgart. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschaftsrecht, Mergers & Acquisitions, Bank- und Kapitalmarktrecht, Wettbewerbsrecht, Medien- und Sportrecht, Informationstechnologie, Urheberrecht und gewerblicher Rechtsschutz, Bau- und Immobilienrecht, Arbeitsrecht, Öffentliches Recht, Insolvenzrecht und Energiewirtschaftsrecht. HEUSSEN verfolgt einen multidisziplinären, internationalen Ansatz, indem sie eng mit Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern sowie Corporate Finance Beratern aus dem In- und Ausland zusammenarbeiten.


Welche Themenschwerpunkte an technischen Lösungen haben sich in letzter Zeit herauskristallisiert?

Das ist zum einen der Bereich interne Prozesse, der sich wiederum untergliedert in die Bereiche Mandantenverwaltung, Rechnungstellung, Buchhaltung und Document Review. Der andere Themenschwerpunkt ist die individuale Produktentwicklung. Da sehen wir derzeit vor allem die Vertrags- und Dokumentengeneratoren.


Welche Software ist ein MUSS für jede Kanzlei für eine erfolgreiche Zukunft?

Ganz generell würde ich sagen: die Kanzleisoftware.


Welche konkreten Prozesse sind typischerweise in Kanzleien überflüssig?

Eine sehr interessante Frage! Ich würde sagen, zum einen Schreiben, die aus immer wiederkehrenden Textbausteinen bestehen. Als weiteren Punkt würde ich nennen – da spreche ich jetzt mehr für die größeren Kanzleien – das Fehlen von (verschriftlichten) Prozessdefinitionen. Oft gehen Prozesse durch verschiedene Hände, weil Zuständigkeiten unklar sind.


Ich weiß, dass du bei Twitter und Instagram als lawfluencerin sehr aktiv bist. Wie präsent sollte der heutige Rechtsanwalt auf Social-Media-Plattformen sein?

Ich würde nicht sagen, dass man auf Social Media präsent sein muss. Die eigene Sichtbarkeit auf den sozialen Netzwerken geht mit einer gewissen Regelmäßigkeit der Aktivitäten einher. Dass man an diesen Plattformen und den dortigen Kommunikationsformen überhaupt Freude hat, ist also enorm wichtig. Für mich persönlich ergeben sich aus den sozialen Netzwerken viele Vorteile, z.B. die Vernetzung mit Kolleginnen und Kollegen oder auch das Sammeln von (tagesaktuellem) Branchenwissen. Hier ein kleiner Aufruf an die Leserinnen und Leser: wenn ihr Fragen an mich habt, dann nur zu! Der Weg über Social Media ist ja doch etwas greifbarer als der über E-Mail.


Wie schafft man es, sich in so einem dynamischen Themengebiet auf dem neuesten Stand zu halten?

Das Internet bietet so viele Kanäle, die ganz niedrigschwellig Zugang zu Informationen ermöglichen. Ich denke da an Blogs, Podcasts, YouTube-Videos etc. In einem LinkedIn-Artikel, den ich regelmäßig update, habe ich meine Podcast-Empfehlungen zusammengefasst. Und hier gleich noch ein Tipp: eine sehr geschätzte Kollegin von mir, Jolanda Rose, hat kürzlich einen Legal Tech Kickstart Guide veröffentlicht, in dem sie viele tolle Quellen zusammengetragen hat.


Was sind die Grundvoraussetzungen von Anwälten in kleineren Kanzleien, die diese in Anbetracht aktueller Technologien heutzutage erfüllen müssen?

Zunächst sollte eine technologische Grundausstattung an Hard- und Software auf dem Stand der Technik vorhanden sein. Den nächsten Punkt betrifft das vielgepriesene, offene Mindset - also neugierig und offen zu sein gegenüber neuen Themen und Entwicklungen. Wenn man diese beiden Aspekte berücksichtigt, dass ist man (nicht nur) als kleine Einheit gut gerüstet für die Zukunft.


Warum gibt es deiner Meinung nach einen Anpassungs- und Modernisierungsbedarf in der Juristenausbildung?

In der VUCA-Welt von heute, in der sich ganze Berufsbilder verändern, ändern sich auch die Anforderungen, die an einen selbst gestellt werden. Das für sich genommen zeigt bereits den Anpassungsbedarf auf. Wir müssen uns Kompetenzen aneignen, um mit Dingen umgehen zu können, von denen wir jetzt noch nicht wissen, dass sie auf uns zukommen werden. Außerdem wird die Bedeutung von Daten und Algorithmen immer mehr zunehmen. Auch in diesem Bereich herrscht Modernisierungsbedarf.


Du wirst im Wintersemester 2020/ 2021 an der Uni Regensburg eine Lehrveranstaltung abhalten. Welche Inhalte wirst du den Studierenden dabei näherbringen?

Der Fokus wird dabei ganz klar auf Legal Tech in der Rechtsberatung und speziell bei den berufsrechtlichen Aspekten, also mit Blick auf Kanzleiaußendarstellung, Marketing und interne Prozesse, liegen. Wir werden uns außerdem die Zusammenarbeit zwischen Technologiedienstleistern auf der einen und Rechtsanwaltskanzleien auf der anderen Seite aus rechtlicher Sicht ansehen.


Interviewer

Melanie ist seit 2018 als Rechtsanwältin zugelassen und seit dem in der Rechtsanwaltskanzlei GÖHMANN in Hannover tätig. Nebenbei betreut sie die Legal Clinic an der Uni Hannover.