“Ein Dekan sagte uns: Ich vertraue ja auch Wikipedia nicht.”

 

Befindet man sich in der Examensvorbereitung dann kennt man üblicherweise Mind-Maps, analoge Karteikarten und Skripte. Neben diesen eher altertümlichen Lernmethoden hat Christian mit seiner Jurafuchs App eine innovative App entwickelt, dass in 16,5 Minuten effizientes Lernen verspricht. In diesem Interview sprechen wir über seine App „Jurafuchs“ und die Vorteile des digitalen Lernens.  - Christiane Wörgötter


Christian Leupold Wendling hat in Freiburg und Aix-en-Provence Jura studiert und in Cambridge ein LL.M.-Studium absolviert. 2008 hat er als Student die deutsche Niederlassung einer internationalen Menschenrechtsorganisation mitgegründet. Nach seiner juristischen Ausbildng arbeitete er drei Jahre lang für die Kanzlei Hengeler Müller im Bereich Dispute Resolution. 2018 gründete er gemeinsam mit Steffen Schebesta und Carl- Wendelin Neubert das eLearning-Startup Jurafuchs, für das er seitdem auch als Geschäftsführer tätig ist.


Was verstehst du unter Digitalisierung und Digitalisierung im Studium? Wie siehst du den Stand der Digitalisierung, und was hat sich seit deiner Studienzeit geändert?

In der Rechtswissenschaft wird alles ständig definiert. Nur beim Begriff der Digitalisierung habe ich das Gefühl, dass es kaum jemanden stört, dass darunter jeder etwas anderes versteht und es ein Moving Target ist. Im Podcast der Zeit ("Sind wir jetzt endlich digitalisiert, Sascha Lobo?"), findet Sascha Lobo meiner Meinung nach genau die richtige Definition von Digitalisierung: Er sagt dazu, dass "das, was man als Digitalisierung empfindet, meistens das ist, was gerade noch nicht technologisch da ist, aber schon am Horizont erkennbar ist". Rückblickend waren die Anfänge der Digitalisierung wohl die Umrüstung von einer Schreibmaschine auf die digitale Schreibmaschine und anschließend auf den Computer. Die Digitalisierung ist aber kein Prozess, der abgeschlossen ist. Ich glaube, dass uns eine weitere massive digitale Transformation bevorsteht. Am Horizont sind bereits Technologien und Methoden sichtbar, die Auswirkungen auf die Digitalisierung der Bildung haben werden. Dabei geht es zum Beispiel um App-Technologie, Gamification, Microlearning, Social Learning – also Vernetzung – Machine Learning, KI, Big Data – speziell Learning Analytics – die konkreten Auswirkungen auf die Personalisierung von Lernfäden haben werden. Zu nennen sind weiter der 5G Ausbau, mit erheblichen Auswirkungen auf mobiles Lernen, Virtual, Augmented Reality und die Sprachsteuerung. Da gibt es natürlich noch viel mehr – das ist ja auch das Spannende unserer heutigen Zeit. Schaut man sich diese Methoden und Technologien als Beispiel an, ist meiner Meinung nach die Diagnose nicht gewagt, dass wir insgesamt bei der Bildung in Deutschland hinterherhängen. Und bei der juristischen Bildung wahrscheinlich noch schlimmer. Die Corona-Pandemie hat natürlich Fortschritte in der Digitalisierung gebracht, aber deutlich weniger, als möglich wären. Die Möglichkeit, Vorlesungen asynchron abspielen zu können, finde ich natürlich gut. Ich glaube, dass das alle gut finden. Dieser Schritt der Digitalisierung hätte aber schon viel früher gegangen werden müssen.


Jurafuchs ist eine App, die Studenten/innen oder auch anderen Interessierten beim Erlernen aktueller Rechtsprechung hilft. Jurafuchs ist dabei speziell für den Alltag und für die wöchentliche Nutzung gedacht, da die gestellten Aufgaben inhaltlich kurz gehalten sind (sog. Microlearning). Daneben stehen die weiteren Elemente wie der Gaming-Faktor und die Community, welche die App auszeichnen. Anhand echter Fälle kann man sein juristisches Urteilsvermögen schulen. Jurafuchs orientiert sich nach eigenen Angaben an der Sprachlern-App Babbel.


Du sagst, dass es im Jurastudium noch schlechter liefe als in anderen Studiengängen. Kannst du dir erklären warum das so ist?

Mir fehlt zwar ein Überblick über alle Studiengänge, aber ich befürchte, dass das Jurastudium schlechter dasteht als andere Studiengänge und dafür gibt es ein paar Indizien. Das Establishment der "Jura Welt" verfügt über erhebliche Beharrungskräfte. Wir haben zum Beispiel mal von einem Dekan gehört, als wir ihm das Lernen mit einer App vorgeschlagen haben, dass er das nicht gut fände, da er ja auch nicht Wikipedia vertrauen würde und sofern er Bedarf habe, eher in die Encyclopedia Britannica reinschauen würde. Das ist natürlich ein extremes Statement, fasst aber eine weit verbreitete Sichtweise gut zusammen. Um einen anderen Bereich herauszugreifen: Im Rahmen des Medizinstudiums gibt es eine Lernapp ("Amboss"), die von fast allen Medizinstudent:innen beim Lernen eingesetzt wird. Ein Großteil der medzinischen Fakultäten, wenn nicht sogar alle, haben dafür eine Campuslizenz erworben, um allen das Angebot zugänglich zu machen. Bei den juristischen Fakultäten ist dies – mit wenigen Ausnahmen z.B. bei der Uni Jena oder EBS Law School in Wiesbaden – anders. Viele erliegen noch dem Irrtum, dass sie digitale Angebote selbst erstellen müssten und das ist grotesk. Es ist schon schwer genug, digitale Technologien und digitale Bildungsangebote sinnvoll an Universitäten einzusetzen, sie aber dann selbst noch entwickeln zu müssen, ist absurd. Ich glaube, die Lösung wird in einer Partnerschaft von spezialisierten Technologieunternehmen und Bildungsträgern wie Hochschulen liegen.


Dann kommen wir zu deiner Vorbereitung: Wie hast du dich aufs Examen vorbereitet? Konntest du damals schon digitale Möglichkeiten wahrnehmen?

Ich habe im Verlaufe meines Studiums so ziemlich jedes Lernformat und jede Methode der Wissensspeicherung ausprobiert, die ich unter die Finger kriegen konnte. Mich hat schon immer die Frage fasziniert, wie sich so ein komplexes Gedankengebäude am sinnvollsten abbilden lässt. Ich habe den Stoff sehr oft umstrukturiert auf kleine Karteikarten, mittlere Karteikarten, große Karteikarten, in Heftform, auf digitale Karteikarten, in mindmaps oder in eigenen Wikis etc. festgehalten. Ich habe für mich festgestellt, dass alle Methoden unterschiedliche Stärken und Schwächen haben. Das gilt eigentlich auch für die digitalen Lernmodule, die wir in der Jurafuchs-App zur Verfügung stellen. Unsere Lösung ist ein bunter Mix von verschiedenen Lernformaten, da jedes Format eigene Stärken und Schwächen hat.


Hättest du gerne mehr digitale Möglichkeiten genutzt? Wenn ja, was hättest du dir gewünscht, was es damals noch nicht gab?

Hätte es zu meiner Studienzeit schon eine App wie Jurafuchs oder eine Alternative gegeben, mit der man die Möglichkeit hat, effektiv mit einer App zu lernen, hätte ich diese Möglichkeit auf jeden Fall genutzt. Wir haben Jurafuchs ja auch aus einem eigenen Bedarf heraus entwickelt. Denn wenn wir hunderte oder tausende von kleinen Fällen haben, können die Nutzer:innen schnell feststellen, wo noch Wissenslücken bestehen. So wäre der Lernfortschritt auch deutlich besser zu messen, darin liegt auch ein erhebliches Potential für effizienteres Lernen. Unsere Nutzer:innen lernen mit unserer App im Schnitt 16,5 Minuten täglich. Ich glaube, dass diese Zeit zum effizientesten Lernen gehört. Diese Möglichkeiten hätten mir in meiner Vorbereitung wirklich geholfen.


Denkst du künftig wird der Schwerpunkt im digitalen Lernen sein?

Ich sehe viele Vorteile. Das Lernen wird meiner Meinung nach effektiver und konsistenter und jedem zugänglicher. Ich glaube, dass Vernetzung dem Lernen eine Art Turbo verleiht.

Zu dem Punkt Effizienz: Informelles Lernen in Form von Microlearning ist extrem effektiv. Mein Sohn, der in der ersten Klasse ist, lernt zum Beispiel etwa 15 Minuten am Tag mit einer Lernapp für Schüler:innen. Die App gibt alle 3 Sekunden ein Feedback, ob die Eingabe richtig oder falsch war. So ist es auch bei Jurafuchs. Hinzu kommt, dass wir den Lernfaden personalisieren und uns fragen, welche Inhalte bringen welchen Nutzer:innen den größten Vorteil in diesen täglichen 16,5 Minuten.

Zu dem Punkt Konsistenz: Wir müssen uns auf lebenslanges Lernen einstellen. Das effektivste Lernen ist tägliches Lernen. Dafür gibt es lernpsychologische Forschungsergebnisse. Das Problem ist, dass der Vorsatz „ab heute bin ich einfach diszipliniert“, kein realistischer Ansatz ist. Gamification, Push-Nachrichten, Streaks, daily impulses und auch die Community können helfen, konsistent zu bleiben. Wir haben eine Datenauswertung gemacht, welche ich ziemlich spektakulär finde: Nutzer:inner, die 13 Tage in Folge mit der Jurafuchs-App lernen, haben statistisch eine Gewohnheit entwickelt. So steigt die Wahrscheinlichkeit den Lernstreak – also jeden Tag in Folge ohne Pause zu lernen – nicht mehr zu brechen, von Tag 12 auf Tag 13 auf über 90 Prozent. Wer das nachlesen will, findet die Daten auf dem Jurafuchs Blog.

Zu dem Punkt Zugänglichkeit: Digitales Lernen – so wie wir es verstehen – passt in jeden Alltag und auch in jedes Curriculum! Eine solche digitale Anwendung kann jederzeit und in jeder Lage genutzt werden. Dies kann am Abend nach der Arbeit sein, ich der Mittagspause oder auf dem Weg zur Arbeit. Zudem ist Digitales Lernen leichter verständlich und deswegen auch für eine größere Gruppe von Personen möglich.

Der letzte Punkt ist die Vernetzung. Wir glauben, dass Social Learning wahnsinnig mächtig ist. Menschen sind Herdentiere. Wir orientieren uns bei anderen und lassen uns von ihnen inspirieren. Deswegen legen wir auch bei Jurafuchs großen Wert darauf, die Interaktion zwischen den einzelnen Nutzer:innen zu fördern.


Denkst du in der Zukunft wird der Fokus mehr im digitalen Lernen sein?

Zweifellos. Ich glaube daran hat niemand ernsthafte Zweifel. Wir erleben eine sich immer stärker beschleunigende Informationsexplosion. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle fünf bis zwölf Jahre. Welcher Zeitraum das genau ist, ist umstritten. Klar aber ist, dass dieser sich immer weiter verkleinert, d.h. der Wissenszuwachs der Menschheit sich beschleunigt. Dann gibt es für die Juristerei noch einen speziellen Megatrend und zwar den der Verrechtlichung der Gesellschaft. Das liegt zum einen daran, dass die europäische Union immer mehr Recht schafft. Zum anderen liegt es daran, dass der technologische Wandel sich immer stärker beschleunigt und Neubereiche reguliert werden müssen, wie z.B autonomes Fahren, KI, Biotechnologie, Weltraum. Diese beiden Effekte – also Informationsexplosion und Verrechtlichung der Gesellschaft – überlagern sich. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, wie wir die heutige Generation weiterbilden und die jüngere Generation auf den Stand der Forschung bringen können. Herkömmliche Lernmethoden eignen sich nicht mehr, um auf die schnellen Änderungen in unserer heutigen Gesellschaft zu reagieren. Hier braucht es neue Ansätze, um das Lernen über das gesamte Leben fortzusetzen. Das tägliche Lernen wiederum setzt Microlearning voraus, welches am besten auf mobilen Endgeräten stattfindet. So sind wir zu dem Produkt gekommen, dass wir in der juristischen Bildung für zukunftsfähig halten: Jura Lernen mit App Technologie, mit Microleaning und Gamification und mit einem immer feiner werdenden Grad an Personalisierung und Vernetzung.

Da sind wir noch lange nicht am Ende der Entwicklung angekommen. Für viele, die die Jurafuchs-App heute zum ersten Mal testen, ist das eine verblüffende Erfahrung, wie juristische Bildung aussehen kann.


Kannst du uns einmal vorstellen, was genau Jurafuchs ist?

Jurafuchs ist eine Lernapp für iPhone, Android und Tablets und unterstützt in allen Phasen des Jurastudiums. Wir bieten derzeit etwa 20.000 interaktive Fragen, aus allen Rechtsgebieten sowie aktuelle Rechtsprechung zur Klausur- und Examensvorbereitung an. Unsere Nutzer:innen haben unsere Fragen mittlerweile knapp 22 Millionen mal beantwortet.


Du hast jetzt schon mehrfach die Begriffe Microlearning und Gamification verwendet. Was genau muss man sich darunter vorstellen?

Microlearning bedeutet Lernen in kurzen Einheiten und kleinen Schritten. In der Lernforschung ist anerkannt, dass informelles Lernen, das sich in den Alltag integrieren lässt, riesiges Potenzial hat und vielleicht die Zukunft des Lernens darstellt. Unbestritten ist auch, dass tägliches Lernen die effektivste Form ist. Das Problem ist nur, das umzusetzen. Man muss sich von mehrmonatigen Lernplänen und langen Einheiten, die jemanden mehrere Stunden an einen Computer fesseln, verabschieden. Dann passt das Lernen in den Alltag, man kann unterwegs und zwischendurch lernen. Dieser Shift ist profunder, als man auf den ersten Blick denken könnte, denn keine der herkömmlichen Lernmaterialen eignet sich für diese Form des Lernens. Wir mussten den gesamten examensrelevanten Stoff mit neuen interaktiven Aufgaben abdecken, die es so noch nicht gab.


Das war jetzt Microlearning, richtig? Was bedeutet Gamification?

Gamification bedeutet, Mechaniken aus der Videospielbranche, die Nutzer:innen motivieren dranzubleiben und gleichzeitig auf ein spielerisches Element zurückgreifen, auf einen anderen Bereich zu übertragen – hier den Bereich der Bildung. Dies ist auch wissenschaftlich fundiert. Wir haben das nicht erfunden, sondern etablierte Gamification-Mechaniken aus anderen Bildungsbereichen übertragen. Beispiele für diese Mechaniken sind Punktesysteme, Badges, Leaderboards, motivierende Elemente wie Pop Ups mit Konfetti und Animationen. Wir begreifen es auch zum großen Teil als eine Frage des Timings. Wir verwenden viel Zeit darauf, herauszufinden, an welchen Stellen unsere Lerninhalte vielleicht noch zu dicht sind. Das heißt, wo wir Nutzer:innen verlieren und deshalb die Inhalte in noch kleinere Einheiten aufteilen müssen oder vielleicht auch eine Durststrecke besteht und eine Motivationshilfe notwendig ist. Natürlich testen wir zudem in vielen Experimenten, was helfen kann, täglich am Ball zu bleiben. Gamification ist ein Layer, der einer ständigen Verbesserung bedarf. Wir können dadurch das Tool immer besser an die Zielgruppe anpassen.


Im Interview mit Legal Tech Verzeichnis hast du gesagt: „Jura lernen ist ziemlich einsam“: Aber ist es mit deiner App lernen nicht gerade einsam? Kann man die App mit einer ausgewählten Gruppe zusammen nutzen und sich gegenseitig vergleichen?

Ein bisschen schimmert da die Ansicht durch, das Digitale als Feind des Dinglichen zu sehen. So beschreibt es Sascha Lobo, das ist einer seiner Topoi, und ich glaube, das ist falsch. Die Realität sieht anders aus. Der digitale Raum sollte vielmehr als Ergänzung verstanden werden und nicht als Konkurrenz.

Jurafuchs ist eine Art des Selbststudiums. Ich glaube, es ist auch allen klar, die Jura studiert haben: ohne lange Konzentrationsphasen ist das Studium nicht zu schaffen. Ich habe auch nichts dagegen, konzentriert vor mich hinzuarbeiten. Ich mag diese ruhigen Stunden – man nennt sie ja heutzutage deep work – sehr. Was ich aber nicht mag, ist allein auf weiter Flur, ohne Austausch, ohne Stoff und ohne Guidance unterwegs zu sein. Da stellen sich mir viele Fragen: Habe ich genug gemacht, muss es mehr sein? Habe ich das gerade nur gelesen oder auch verstanden? Zusätzlich stellen sich materiellrechtliche Fragen: Steht die Aussage X mit der Aussage Y im Widerspruch?

Das Lernen mit Jurafuchs ist eine Art Dialog. So haben wir es entworfen und so empfinden wir es auch. Einerseits gibt es sofort Feedback: Habe ich das richtig gemacht? Stimmt meine Vorstellung zu diesem juristischen Problem oder dem Komplex? Dann gibt es Signale: Wann genug gemacht ist, wenn das selbstgesetzte Tagesziel erreicht ist. Zusätzlich gibt es auch den Austausch in einer großen Anzahl von Mikro-Foren zu allen Inhalten in der App, die kommentierbar sind. Dort findet man mittlerweile 15.000 Beiträge, sodass kaum ein Inhalt nicht kommentiert ist. Wir glauben, dass man durch das interaktive Frage-Antwort-System sehr profitieren kann. Es ist eine asynchrone Diskussion und man kann natürlich auch eigene Fragen stellen, die von der Community oder unseren Moderatoren beantwortet werden. Schließlich gibt es soziale Elemente wie Gruppen und Leaderboards. Wer eine Lerngruppe hat, kann sich auch bei Jurafuchs zusammenschließen. Dadurch schafft unsere App Interaktion, die es sonst nicht gegeben hätte.


Jura ist ja in gewisser Form ein Selbststudium, die meisten lernen das Lernen erst im Repetitorium oder gar danach. Würdest du sagen, dass deine App universitäre Veranstaltungen ersetzen kann?

Wir wollen universitäre Lehre nicht abschaffen. Ganz im Gegenteil. Unsere Vision ist das "Flipped Class Room Konzept". Ich habe das während meines LLMs in Cambridge erlebt: Wenn die Student:innen sich sehr intensiv vorbereiten, entlastet das die Lehre und ermöglicht Diskussionen auf einem höheren Niveau. Wenn man Hochschulprofessor:innnen fragt, ob sie lieber die Standardfälle der “conditio sine qua non-Fomel“ durchgehen oder lieber das Konzept an sich hinterfragen und mit den Studierenden diskutieren wollen, dann ist die Antwort nicht überraschend. Natürlich wollen sie viel lieber auf hohem Niveau diskutieren. Das andere ist eher eine Art Pflichtübung, die manchmal pflichtbewusst und manchmal lustlos wahrgenommen wird. Ich glaube, dass bei der Vermittlung des Fundaments Lösungen wie die Jurafuchs-App eine Schlüsselrolle spielen können.

Vielleicht ein Beispiel: Prof. Towfigh (EBS Law School ) ist ein Vorreiter. Die EBS hat eine Campuslizenz für alle Student:innen erworben und Prof. Towfigh und sein Lehrstuhl setzen die App als Ergänzung der Grundrechtsvorlesung ein und sammeln eigene Erfahrungen mit dieser Kombination von universitäter Lehre und digitalen Lernmethoden: Zunächst wurden Kapitel und Unterkapitel des Grundrechtsmoduls in der Jurafuchs App nach Inhalten durchsucht, die zu den Vorlesungsabschnitten passen. Diese wurden dann als Deeplinks den Student:innen zur Vor- und Nachbereitung der Unterrichtseinheit an die Hand gegeben. Darüber hinaus hat der Lehrstuhl eine "Grundrechte-Gruppe" in der App angelegt, alle Teilnehmenden eingeladen und festgelegt: Wer am Ende des Semesters am meisten Jurafuchs-Coins gesammelt hat, erhält einen Preis. Ich glaube, in dieser Kombi liegt die Zukunft juristischer Lehre und damit müssen wir experimentieren und Erfahrungen sammeln.


Was macht eure Technologie anderen digitalen Lösungen gegenüber überlegen? Auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen baut ihr das auf?

Wir betreiben keine industrielle Forschung um die Technologie voranzubringen. Wir verstehen uns als Experten:innen für juristische Bildung in Form von Microlearning und wir setzen stark auf Gamification und Community. Unsere Vorbilder sind Babbel und Duolingo. Das sind die erfolgreichsten Sprachlernapps. Thomas Holl, der Babbel Mitgründer und CTO (Chief Technical Officer), ist bei uns mitbeteiligt und beeinflusst natürlich die Entwicklung von Jurafuchs stark. Zu den Themen Microlearning, Gamification und Social Learning gibt es zahlreiche Studien. Zudem existieren spezielle Studien zu den Sprachlernapps. Das Ergebnis bei Babbel: 15h mit der App entsprechen einem ganzen Semester an der Uni. An solchen Studien für Jurafuchs arbeiten wird.


Jurafuchs hat eine Ranking-Liste und misst den Fortschritt. Darin liegt Potenzial, die Nutzer:innen sehen dies gerne. Aber würdest du nicht sagen, dass es schon genügend Konkurrenzkampf im Jurastudium gibt?

Leaderboards und Ranglisten sind etablierte Gamification-Mechaniken und ich glaube der Nutzen also spielerische Motivation und spielerischer Wettbewerb überwiegen. Es kommt dann natürlich auf die genaue Ausgestaltung an. Wir von Jurafuchs haben eine Art sozialen und nicht gnadenlosen Konkurrenzkampf umgesetzt. Wir zeigen und vergleichen nicht die Quoten richtiger und falscher Antworten. Stattdessen honorieren wir auf den Leaderboards Engagement, Konsistenz und Verhalten mit sozialem Nutzen, also z. B. die Beantwortung von Fragen, die andere Nutzer gestellt haben. Wenn Antworten für gut befunden werden, können sie durch die Markierung als „beste Antwort“ hervorgehoben werden. Es gibt Gruppenwettbewerbe an Hochschulen und Kanzleien, die Jurafuchs einsetzen. Bei diesem Streakleaderboard gibt es einen Vergleich zwischen der Anzahl der gelernten Tage in Folge und ein Konkurrenzkampf steht da nicht im Vordergrund. Streaks zu bewahren ist eher ein Kampf gegen sich selbst, der anderen vielleicht als Inspiration dient. Ein Beispiel: Melanie, die das Streakleaderboard anführt, hat gezeigt, dass sie 1150 Tage in Folge mit der App lernen kann. Das ist eine Pionierleistung, die man sichtbar machen muss. Diesem Zweck dient das Leaderboard. Bei Duolingo gibt es eine ähnliche Mechanik, die besten haben fünf Jahre in Folge Streaks.

Zudem sind unsere Leaderboards freiwillig. Wer keine Lust hat, der muss sich das nicht anschauen und wird dort auch nicht gelistet.


Welche Zielgruppen möchtet ihr neben Jurastudierenden erreichen? Soll es für jeden zugänglich gemacht werden oder ist es nur zum Lernen im Jurastudium gedacht?

Derzeit richten wir uns primär an Jurastudent:innen aller Semester und Rechtsreferendar:innen. Die App ist also geeignet, um damit vom ersten Semester bis zum zweiten Staatsexamen täglich zu lernen. Aber unsere Vision ist größer als das. Wir wollen juristische Bildung für alle zugänglicher machen, auch für Nichtjuristen. Thomas Fischer, der ehemalige BGH Richter meint, es sei ein Skandal, dass man heute in Deutschland Abi machen könne, ohne auch nur grundlegende Rechtskenntnisse zu haben.

Diese Einschätzung teile ich, denn die Verrechtlichung der Gesellschaft trifft nicht nur Legal Professionals, sondern auch Schüler:innen, Verbraucher:innen, Mieter:innen und alle, die Recht in ihrem Job verstehen und anwenden müssen, beispielsweise Polizist:innen oder Sozialarbeiter:innen. Für all diese Gruppen kann unsere App eine Hilfe sein, die Jura und Recht zugänglicher macht.


Welche Konzepte verfolgt ihr, damit jeder Jura versteht und auch Spaß dran hat?

Wir haben eine spezielle eigene Didaktik entwickelt, die stark auf kurze Fälle setzt. Weil diese Form der juristischen Wissensvermittlung so konkret ist, funktioniert sie nicht nur für Jurastudierende und Legal Professionals super!

Der juristische Maßstab wird greifbarer, wenn man ihn nicht nur abstrakt formuliert, sondern eine Vielzahl von Fällen dazu verwendet: Erst einen, der klar von einer Norm erfasst ist und dann einen, der klar nicht erfasst ist. So nähern wir uns dann immer weiter dem Maßstab oder der Grenze. Wir haben festgestellt, dass dies vor allem für Laien gilt, denen es besonders schwerfällt, Zugang zu juristischen Inhalten zu finden. Ein Nichtjurist hat uns beispielsweise mal gesagt, er hätte nie verstanden, was Vorsatz im Strafrecht bedeutet. Nachdem er aber unsere 50 Fälle zum Vorsatz durchgespielt hatte, wurde es ihm viel verständlicher.


Was hast du zukünftig mit Jurafuchs geplant? Kannst du uns schon etwas mitteilen?

Wir haben heute 20.000 Fragen aus allen Rechtsgebieten, sowie aktuelle Rechtsprechung. In den nächsten Monaten werden wir die Inhalte weiterhin massiv ausbauen und mindestens verdoppeln. Zudem sollen die Inhalte zur Rechtsprechung mehr werden. Außerdem entwickeln wir ergänzende Formate wie z.B. "Spruchreif", den Jurafuchs Podcast. In diesem bespricht unser Mitgründer und Chefredakteur Wendelin Neubert mit Richter:innen und Hochschulprofessor:innen, wie z.B. Dr. Christine Hohmann-Dennhardt (ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht) aktuelle Gerichtsentscheidungen mit gesellschaftlicher Relevanz in Interviewform in 20- bis 30-minütigen Einheiten.

Natürlich entwickeln wir auch die App ständig weiter. Hierbei leitet uns immer die Frage: Wie können wir es schaffen, das Lernen juristischer Inhalte noch schneller, effektiver und nachhaltiger zu machen?


Lieber Christian, danke für das Gespräch!


Christiane Wörgötter

Dieses Interview wurde von Christiane Wörgötter geführt. Christiane ist seit März 2021 Mitglied bei eLegal und ist im zwölften Semester in ihrem Jura Studium an der Universität Göttingen. Sie hat ihren staatlichen Pflichtfachteil abgeschlossen und absolviert ihre Schwerpunktsbereichsprüfung.

 
Vincent Graf